Mit seinen One Minute Sculptures, die er als entscheidenden Moment seiner Laufbahn bezeichnet, hat Erwin Wurm dem Skulpturenbegriff eine performative Dimension gegeben. Jetzt vertritt er gemeinsam mit Brigitte Kowanz Österreich bei der 57. Kunstbiennale in Venedig.
Herr Wurm, Sie kommen gerade aus Venedig von den Aufbauarbeiten für die Kunstbiennale zurück, wo Sie gemeinsam mit Brigitte Kowanz in diesem Jahr Österreich vertreten werden. Können Sie schon verraten, was uns erwartet?
Das darf ich leider nicht. Aber ich darf verraten, dass ich performative One Minute Sculptures zeigen werde. Für mich übrigens ein Jubiläum, denn vor genau zwanzig Jahren habe ich begonnen One Minute Sculptures zu machen.
Mit diesem Konzept haben Sie dem Skulpturenbegriff eine ganz neue Dimension verliehen. Wie entstand seinerzeit die Idee?
Ich begann während meiner Arbeit mein Verständnis von Skulptur grundsätzlich zu hinterfragen. Bei diesem Gedanken stieß ich auf den Begriff der Zeit. Es folgten Überlegungen zur Frage der Masse, des Volumens, der Fülle und der Haut. Der Begriff der Zeit ist zu einem wesentlichen Aspekt meiner One Minute Sculptures geworden. „One Minute“ ist dabei als „kurz“, als Momentaufnahme, zu verstehen. Bei jeder One Minute Sculpture gibt es einen Akteur oder eine Akteurin, den oder die ich mit einem Gegenstand in paradoxer Weise zusammenführe und kurzfristig einfriere. Dieses Konzept hat sich mit der Zeit gewandelt. Zu Beginn hat mich dabei besonders die Frage nach der Autorenschaft beschäftigt. Später kamen Fragen zum Verhältnis zwischen Objekt und Subjekt hinzu.
Ein Erfolg Ihrer „One Minute Sculptures“ liegt auch in der Bereitschaft von Betrachtern, diese groteske Verbindung mit einem Gegenstand freiwillig einzugehen. Hatten Sie jemals die Befürchtung, dass dies nicht funktionieren könnte?
Bei den ersten Ausstellungen im deutschsprachigen Raum hat es tatsächlich nicht auf Anhieb funktioniert. Viele zögerten und verstanden sich immer noch als Betrachter. In den USA war das Gegenteil der Fall. Dort habe ich die Menschen in ihrer Motorik viel freier und als weniger befangen empfunden. In Österreich und Deutschland hatte man damals offensichtlich noch größere Hemmungen, sich auf derartige Weise zu exponieren.
Wie denkt Erwin Wurm über Bildhauerei?
Ich versuche, über den klassischen Begriff der Bildhauerei hinauszudenken. Ich arbeite zweidimensional mit Volumen und dem Prinzip der Zu- und Abnahme. Dieses Prinzip impliziert eine chronologische Folge, was ich mit einem technischen Aspekt verbinde. Diesem Gedanken folgend, sind auch meine „Fettskulpturen“ entstanden.
Ihre „fetten“ Autos und Häuser üben beispielsweise Kritik an den Statussymbolen unserer Zeit.
Richtig. Das ist als klare Kritik an unserer bestehenden Konsumgesellschaft gemeint.
„Fette“ Autos und Häuser zeugen ja auch von Humor, ein Missverständnis Ihrer Arbeit, das sich hartnäckig hält.
Zumindest die Annahme, dass meine Arbeit vorrangig humorvoll sei, ist falsch. Die humoristische Note meiner Arbeit mag ein vordergründiger Aspekt sein, der im ersten Kontakt Zugänglichkeit zu einem Werk bieten kann. Besonders interessiert mich aber das paradoxe Verhältnis zwischen Realität und Abbild beziehungsweise Vorstellung der Realität.
Bei genauerer Untersuchung äußern sich Ihre Werke sehr gesellschaftskritisch, oft Bezug nehmend auf eine bestimmte Zeit. Was kritisieren Sie denn an der heutigen Gesellschaft?
Da gibt es sehr viel zu kritisieren. Besonders tragisch finde ich, dass in Europa aktuell ein Rückgang der Emanzipationsbestrebungen zu beobachten ist, und das, obwohl die Frage der Gleichstellung der Geschlechter bei uns noch längst nicht geklärt und abgeschlossen ist. Grundsätzlich sehe ich die Stellung der Frau sowohl in westlichen als auch in anderen Kulturen kritisch. Frauen sehen sich zunehmend Vorschriften und Beschränkungen ausgesetzt. Dabei sollten wir danach streben, diese Entwicklung umzukehren.
Welche Kritik übt beispielsweise Ihr „Narrow House“, das 2011 bereits in Venedig zu sehen war?
Der gesellschaftskritische Aspekt ist in diesem Fall durch einen Prozess entstanden. Als ich nach Peking eingeladen wurde, um an einer Ausstellung teilzunehmen, wurde mir ein sehr enger Raum zugewiesen. Ich wollte diese Beengung thematisieren. So entstand der Gedanke mit dem Haus. Später stellte ich dann auch Bezüge zu meinem Elternhaus und zu der damaligen, engstirnigen Gesellschaft her. Das Resultat war ein schmales, extrem beengtes Haus, das beklemmend, eigentlich bedrohlich wirkt.
Was sagen Sie zu Künstlern wie Ai Weiwei, die mit ihrer Kunst dezidiert politisch auftreten?
Ich bin ein sehr politischer Mensch. Obwohl meine Kunst selbst nicht politisch agiert, schätze ich dennoch Künstlerkolleginnen und -kollegen, die dies gekonnt tun. Als Ai Weiwei 1995 eine antike Urne aus der Han-Dynastie zerstörte und diesen Akt in einer dreiteiligen Fotoserie dokumentierte, fand ich das sehr intelligent. Dropping a Han Dynastie Urn zielte selbstverständlich als Provokation auf die chinesische Politik und deren Verhältnis zum Kunst- und Kulturerbe des Landes ab. Ich halte es allerdings für wichtig, dass ein einzelner Künstler ein bestimmtes Thema nicht zu sehr für sich einnimmt.
Sie sind aktuell national wie international in der Ausstellungslandschaft bestens vertreten. Kann ein Künstler auch „überpräsent“ sein?
Ich bin tatsächlich gerade sehr präsent und habe neben meinem Beitrag für die Kunstbiennale in Venedig zwei Ausstellungen in Wien, im Leopold Museum und im 21er Haus, und außerdem eine im Kunsthaus Graz. Dazu kommen aktuell Ausstellungen in New York, Brasilien und Deutschland. Ich achte jedoch sehr darauf, dass in jeder Ausstellung andere Arbeiten von mir gezeigt werden. Wirklich präsent ist für mich derzeit vor allem meine Erschöpfung aufgrund des intensiven Arbeitsprozesses, der hinter mir liegt.
Was braucht es eigentlich aus Ihrer Sicht, um als Künstler erfolgreich zu sein?
Durchhaltevermögen, Ausdauer, Talent und die Fähigkeit, mit Kritik umgehen zu können. Die Kritik der anderen, aber auch die Kritik an sich selbst sind wichtig für den langfristigen Erfolg.
Bei vielen besteht die Annahme, dass große Künstler zu Lebzeiten oft um Anerkennung ringen müssen und sich ihr Erfolg oft erst weit später einstellt. Wie sehen Sie das?
Das ist ein Romantizismus des 19. Jahrhunderts, der darauf aufbaut, dass Künstler und Künstlerinnen in Sorge und Not gelebt haben müssen, um posthum in den Olymp der hohen Kunst aufgenommen zu werden. Doch dieser Gedanke ist eine Zumutung und zudem unwahr, denn viele Kunstschaffende waren und sind bereits zu Lebzeiten sehr anerkannt.
Haben Sie in Ihrer künstlerischen Laufbahn hin und wieder gezweifelt?
Ich habe immer an meinen Ideen und an der Bedeutung meiner Kunst für die Gesellschaft gezweifelt und tue dies heute noch. Der Zweifel am eigenen Schaffen ist notwenig, um eine Weiterentwicklung voranzutreiben und neue Ideen entstehen zu lassen, denn eine Idee alleine reicht nicht aus. Ohne Zweifel und die Gefahr, zu scheitern, entsteht kein bedeutendes Werk. Und wenn ein Werk unbedeutend ist, dann merken das die Kunstschaffenden zuletzt und die Betrachter und Betrachterinnen zuerst.
Wenn Sie heute mit Ihrem Werk nochmals neu beginnen könnten, würden Sie anders herangehen?
Das ist schwierig zu beantworten, denn jede Zeit hat ihre eigene Sprache, die es zu finden gilt. Kunstwerke können erst nach ihrer Schaffungsperiode betrachtet werden, um ihre Wertigkeit, im Kontext der Sprache der gegebenen Zeit, angemessen zu bestimmen.
Sie schaffen nicht nur Kunst, sondern sind auch Kunstsammler. Was befindet sich in Ihrer Sammlung?
Ich besitze mehrere Werke von zeitgenössischen Kollegen, vorwiegend aber Zeichnungen, Malereien und Fotografien.
Gibt es dennoch ein Kunstwerk, das Sie gerne noch in Ihre Sammlung aufnehmen würden?
Ich hätte gerne ein Bild von Georg Baselitz, da ich ihn wahnsinnig schätze.
Welche aufstrebenden österreichischen Künstlerinnen und Künstler finden Sie beachtenswert?
Mir gefallen die Arbeiten von Angelika Loderer, Markus Hanakam und Roswitha Schuller sehr gut.
Warum sollte sich ein junger Mensch eigentlich mit Kunst befassen oder sogar damit beginnen, Kunst zu sammeln?
Junge Menschen, eigentlich Menschen jeden Alters, sollten sich mit Kunst befassen und auch sammeln, da mit der Kunst essenzielle Fragen außerhalb jedes Dogmas gestellt werden können und Kunst in gewisser Weise die Essenz unserer Welt sein kann.
Es gibt online zunehmend Angebote, die einen niederschwelligen Zugang für die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst bieten, Einblick in die Mechanismen des Kunstmarkts gewähren und an das Sammeln von Kunst heranführen. Für wie wichtig halten Sie solche Entwicklungen?
Ich finde solche Initiativen sehr gut. Künstlerinnen und Künstler sind viel zu häufig auf staatliche Förderungen und Subventionen angewiesen. Für so wichtig und gut ich das Fördersystem auch halte, so wäre es doch wünschenswert, wenn die Entwicklung der Karrieren junger Künstlerinnen und Künstler weniger von Förderungen, sondern von einem nachhaltigen Sammlermarkt getragen würde, der sich zunehmend auch aus einer neuen Sammlergeneration zusammensetzt.
Was würden Sie einem jungen angehenden Sammler oder einer Sammlerin mit auf den Weg geben wollen?
Angehende Sammler und Sammlerinnen sollen auf ihre Intuition hören. Zum Sammeln von Kunst gehören Hingabe und Leidenschaft mit Mut zum Risiko. Auf das Geld kommt es weniger an.
Was war eigentlich das schönste Kompliment, dass Sie je für eine Ihrer Arbeiten erhalten haben?
2006 installierte ich die Arbeit House Attack auf dem Dach des Mumok. Franz West schrieb mir damals eine Nachricht und sagte mir, wie sehr er sich über dieses Objekt ärgere, da es nicht seine Idee war. Das war ein großes Kompliment.