Ein Ritus der Provokation

Hermann Nitsch, einer der bedeutendsten Vertreter des Wiener Aktionismus, hätte heute, am 29. August 2024, seinen 86. Geburtstag gefeiert – ein Anlass, um auf den nachhaltigen Einfluss des Wiener Aktionismus auf die internationale Kunstwelt und sein programmatisches Oeuvre zurückzublicken. Seine konfrontativen Aktionen und sein monumentales „Orgien-Mysterien-Theater“ brachten Nitsch weltweite Anerkennung ein; sein umfangreiches Werk, bestehend aus Malerei, Aktionsrelikten, Musik, Grafik, Fotografien und Film, ist heute in renommierten Sammlungen auf der ganzen Welt vertreten, darunter auch im ihm gewidmeten Nitsch-Museum. Bei Auktionen im Dorotheum erzielen seine Werke regelmäßig Höchstpreise.

Hermann Nitsch, Schüttbild, erzielter Preis € 228.000

Wiener Aktionismus

Der Wiener Aktionismus, entstanden in den frühen 1960er Jahren, hat eine neue Dimension in der Kunst eröffnet. Die Bewegung hinterfragte fundamental die Rolle des Kunstwerks und des Künstlers in der modernen Gesellschaft. Die Protagonisten – Hermann Nitsch, Günter Brus, Otto Mühl und Rudolf Schwarzkogler – schufen mit ihrer kompromisslosen Kunst einen revolutionären Gegenentwurf zur bürgerlichen Kultur und traditionellen Kunstströmungen. Besonders Hermann Nitsch prägte die Bewegung durch seine drastischen Aktionen und die Entwicklung seines „Orgien-Mysterien-Theaters“.

Abwendung von der Leinwand

Der Wiener Aktionismus suchte aktiv nach einem radikalen Bruch mit den etablierten Kunstformen: Die Künstler verwarfen die abstrakte Malerei, die als unzureichend angesehen wurde, wandten sich von der statischen Bildfläche ab und suchten nach direkter, körperlicher Ausdruckskraft. Nitsch und seine Mitwirker griffen stattdessen auf organische Materialien wie Blut, Urin und Eingeweide zurück, die sie in ihren Inszenierungen einsetzten. Ihre Körper wurden zu Instrumenten, mit denen sie Gewalt, Tabubrüche und existentielle Themen inszenierten. Diese Praxis war eine bewusste Antwort auf die ideologische Starre der Nachkriegszeit und spiegelte eine tiefe Frustration über die Unfähigkeit der damaligen Kunst wider, emotionale und soziale Wahrheiten angemessen zu vermitteln. Die Kunst der Aktionisten war somit nicht nur als Provokation gedacht, sondern auch als ein Mittel, um verdrängte historische und psychologische Wunden offenzulegen und Heilung durch Läuterung zu ermöglichen.

Hermann Nitsch, Schüttbild, erzielter Preis € 113.400

Hermann Nitsch: Das Gesamtkunstwerk

Hermann Nitsch – Aktionist, Maler, Komponist (Sinfonien, Orgelkonzerte), Bühnenbildner – erweiterte das Konzept des Gesamtkunstwerks durch sein „Orgien-Mysterien-Theater“, das Theater, Musik, Malerei und Ritual, basierend auf Elementen dionysischer Rituale, mittelalterlicher Passionsspiele und mythologischer Opferrituale vereinte. Dieses „größte und wichtigste Fest der Menschen“ zielte darauf ab, verdrängte Traumata freizusetzen, die er als wesentlichen Bestandteil der menschlichen Existenz betrachtete.

Sein gesamtes Werk wurde stark von Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und Antonin Artaud beeinflusst. Insbesondere die psychoanalytische Dimension spielte in seinem Schaffen eine zentrale Rolle. Für Nitsch war Kunst Religion, eine Art von spiritueller Praxis durch Rituale der Sinnstiftung, die tief in der Psychoanalyse und den mystischen Traditionen verwurzelt war. Dabei betrachtete er den Künstler als eine Art Priester, der durch Rituale eine kollektive Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen wie Leben und Tod ermöglicht. Diese Ideen übertrug er im „6-Tage-Spiel“ auf die Bühne. Es ist Nitschs bekannteste und monumentalste Inszenierung, die 1998 im Schloss Prinzendorf stattfand und als Höhepunkt seines Schaffens gilt. Hier verschmolzen Musik, Theater und bildende Kunst zu einer intensiven Sinneserfahrung. Nitschs Intention war es, durch ästhetische Erlebnisse eine tiefgreifende Katharsis auszulösen.

Die Aktionsmalerei, die sich durch Verschmieren oder Verschütten auszeichnet, ist ein ekstatischer künstlerischer Prozess, der eng mit Nitschs Theateraktionen verbunden ist. Diese Aktionsmalerei verkörpert eine „visuelle Grammatik“ für das Aktionstheater: Die rote Farbe in den Malaktionen greift die rituellen Handlungen auf, in denen Blut und andere organische Substanzen verwendet werden. Neben den Aktionsbildern, wie den berühmten Schüttbildern, dokumentierte Nitsch seine Aktionen von Anfang an fotografisch und filmisch, um das Anliegen des Gesamtkunstwerks zu sichern. Hermann Nitschs zeichnerische und druckgrafische Arbeiten sind ebenfalls integraler Bestandteil seines Gesamtwerks, wobei die Zeichnung sich von den 1950er- bis 1970er-Jahren zu einer eigenständigen Ausdrucksform entwickelte. Das monumentale Werk „Die Architektur des Orgien Mysterien Theaters“ (1984–1991) steht im Zentrum seines grafischen Schaffens, während spätere Arbeiten wie „Das letzte Abendmahl“ (1983), „Die Eroberung von Jerusalem“ (2008) und „Die Grablegung“ (2008) durch aufwendige Drucktechniken auf Originalmaterialien charakterisiert sind.

Hermann Nitsch, "Kreuzwegstation", erzielter Preis € 99.693

„Skandalkunst“

Trotz des anfänglichen Widerstands in Österreich fanden Nitschs Aktionen und sein gesamtes Oeuvre international Beachtung. Während er in den 1970er Jahren in den USA und Deutschland Erfolge feierte, blieben seine Aktionen in Österreich bis weit in die 1980er Jahre hinein umstritten.

Kunsthistorische Bedeutung

Hermann Nitsch war mit seinem Theater, seinen zusammenhängenden Aktionen, Kompositionen, Grafiken, Schriften und Schüttbildern ab den 1960er Jahren bis zu seinem Tod vor zwei Jahren eine wichtige Person in der internationalen Kunstszene. Der Wiener Aktionismus gilt als einer der bedeutendsten Beiträge zur internationalen Avantgarde. Die Aktionisten bewirkten einen markanten Wandel im Kunstverständnis und beeinflussten Strömungen der Performance-Kunst wie Fluxus und das amerikanische Literary Theatre. Sie beeinflussten zahlreiche internationale Künstler wie Marina Abramović und Paul McCarthy.

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