Egon Schiele: Expressiv, provokativ, sensibel

1912 war ein entscheidendes Jahr für Egon Schiele, Ausnahmekünstler der Wiener Moderne. Geprägt von biografischen Turbulenzen verfeinerte er in dieser Zeit seine unverwechselbare Linienführung, wie zwei Blätter aus der großen Moderne-Auktion im Mai zeigen.

„Die behutsam vorfühlende Arbeit des Bleistifts zwingt die Gegenstände der Darstellung nicht in ein vorgeformtes Flächenornament, sondern entwickelt sie mählich aus dem leeren Grunde, wie ein Bildhauer die Figuren aus dem Stein befreit, und erfaßt sie zärtlich mit versuchenden und wiederholenden Strichen.“ (Otto Benesch, Egon Schiele als Zeichner)

Dieses Aquarell mit seiner ungewöhnlich komplexen Figurenkomposition entstand 1912, während Schieles Aufenthaltes in Neulengbach, einem kleinen Marktflecken nur wenige Kilometer westlich von Wien entfernt. Nach glücklichen Monaten in ruhiger Umgebung, wurde er nach einer Anklage wegen angeblicher Entführung und Schändung von Minderjährigen zu einer Freiheitsstrafe von 24 Tagen verurteilt. Schiele fand sich ungerecht verurteilt, aber er verstand die Botschaft. Nach 1912 sollte er für viele Jahre keine Akte von Kindern mehr malen. Junge Frauen standen ihm nun Modell und im Fokus seines Interesses.

In diesem Jahr war ihm Wally Neuzil seine verständnisvollste Freundin, Geliebte und kongeniales Modell. Erstaunlich, dass er sie dennoch nur selten mit erkennbarem Gesicht malte oder zeichnete, nur ihr rotblondes Haar taucht 1912 merkbar oft in seinen Aquarellen auf. Es ist daher denkbar, dass Wally auch für dieses Aquarell Modell stand.

Die Figur scheint mehr zu schweben als tatsächlich auf dem Boden zu sitzen, die Beine angewinkelt, den Kopf nach unten gebeugt. Der Betrachter blickt von oben auf die junge, nackte Frau mit rotblondem Haar. Ihre einzige Stütze scheint der ausgestreckte linke Arm zu sein, der wie ein Blumenstiel vom unteren Blattrand emporwächst und sich zur körperlichen Fülle wie zu einer Blüte entfaltet. Die betonte, kraftvolle Vertikalität des Arms steht im Kontrast zur Leichtigkeit der weiblichen Formen, die das gesamte Zentrum des Blattes einnehmen.

Egon Schiele, Weiblicher Akt, auf den Arm gestützt, 1912 Gouache, Aquarell und Bleistift auf Papier 45 x 31,6 cm Schätzwert € 400.000 – 600.000

1908 präsentierte der Kunstsalon Hugo Heller in Wien eine Ausstellung, die allein den Zeichnungen und Graphiken Auguste Rodins gewidmet waren. Rodins bildhauerisches Werk war in Wien spätestens seit den ersten Secessions-Ausstellungen bekannt gewesen, seine Zeichnungen empfanden v.a. die Künstler der jüngeren Generation, allen voran Kokoschka und Egon Schiele als „Offenbarung“ auf ihrer Suche nach einem neuen Menschenbild. Rodins freie Studien verschiedener Körperhaltungen in Kombination mit fast transparenten Aquarellzitaten lässt sich auch in dieser bemerkenswerten Gouache nachvollziehen.

Mit dünnem, scharfem Bleistift werden die Körperformen aus dem Grund modelliert. Sie folgen dem Sog einer zügig geführten Linie voller Kurven und Rundungen, die im Bereich des Halsansatzes und der Brüste weniger der Anatomie folgt, mehr Gleichzeitigkeit von Bewegungsmomenten suggeriert. Die reduzierte Verwendung von Gouache im Wechsel mit hauchdünn aufgetragener schwarzer bis blauer Wasserfarbe an den Rändern gestaltet die Oberfläche nach plastischen Prinzipien, verleiht dem gesamten Eindruck aber diesen besonderen Zustand des Schwebens. Allein wie Schiele die Zartheit der Berührung zwischen den Fingern der rechten Hand und dem Fuß mit den wässrigen blau bis schwarz changierende Farben vermittelt, beweist seine ihm eigene Sensibilität für Erotik.

Egon Schiele Liegender weiblicher Akt mit angewinkelten Beinen, 1912 Bleistift auf Papier, 48,2 x 32 cm Schätzwert € 70.000 – 100.000
Egon Schiele, Liegender weiblicher Akt mit angewinkelten Beinen, 1912 Bleistift auf Papier, 48,2 x 32 cm Schätzwert € 70.000 – 100.000

Die Bandbreite von Schieles experimenteller Handhabe der Linienführung wird mit der im selben Jahr 1912 entstandenen Zeichnung eines „Liegenden weiblichen Aktes mit angewinkelten Beinen“ deutlich. Hier ist es der Bleistift allein, der die Konturen herausschält und die ostentativ dargestellte Sexualität mit höchster Minimalität und gesteigerter Ausdruckskraft umsetzt.

Egon Schiele Sitzende Frau mit geneigtem Kopf, 1914 Bleistift auf Papier, 32 x 48 cm Schätzwert € 70.000 – 100.000
Egon Schiele Sitzende Frau mit geneigtem Kopf, 1914 Bleistift auf Papier, 32 x 48 cm Schätzwert € 70.000 – 100.000

AUKTION

Moderne, 20. Mai 2025, 18:00 Uhr
Palais Dorotheum, Dorotheergasse 17, 1010 Wien

20c.paintings@dorotheum.at
Tel. +43-1-515 60-358, 386

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