AFFEKT UND AUSDRUCK
In seinem Spätwerk gelangte Hans Hartung, der Mitbegründer des Informel, zu einer bis dahin unbekannten künstlerischen Freiheit. Die gänzlich neue Art des Farbauftrags führte zu einer unerwarteten Intensität und Tiefe von Struktur und Farbe.
In den 1980er-Jahren begann für Hans Hartung eine neue Phase seines künstlerischen Schaffens: Nach einem Schlaganfall im Jahr 1986 war er an den Rollstuhl gefesselt und konnte nur eingeschränkt malen, war in seiner bislang ausdrucksstarken, geradezu wilden Gestik stark gehemmt. Das vermeintliche Ende seiner künstlerischen Laufbahn entpuppte sich jedoch alsbald als Aufbruch, denn nun begann eine von großer schöpferischer Freiheit getragene Schaffensphase.
Vom inneren Zwang befreit, jegliche zufällig auftretende Gegenständlichkeit in seinen Arbeiten zu unterbinden, malte er fortan impulsive, von der Natur inspirierte Leinwandbilder. Dieser Phase entstammen zwei Bilder aus den späten 1980er-Jahren, „T1988-E40“ und „T1989-H5“, die in der nächsten Dorotheum-Auktion zeitgenössischer Kunst zur Versteigerung kommen. Beide Arbeiten sind geprägt vom starken Gestaltungswillen und der komplexen Beziehung von Affekt und Ausdruck im Werk des Künstlers.
Im Katalog „Hans Hartung, Paris: Chapelle de la Sorbonne“ (1988) beschreibt Daniel Abadie, wie Hartung durch den Gebrauch einer Farbpistole Leinwandbilder von größter Individualität schuf, durch verschränkte Linien und dicht aufgetragene Farbsprüher Fantasiegebilde entstehen ließ, die den damals entwickelten Naturbegriff des Künstlers metaphorisch widerspiegeln. Hartung funktionierte kurzerhand eine für Gartenarbeit vorgesehene Pestizidspritze um und konnte auf diese Weise die durch den Schlaganfall eingebüßte Handkon-trolle einigermaßen ausgleichen. Der Farb-auftrag geriet nun noch freier; die Farbschichten waren noch spontaner überlagert. Es entstanden Muster, deren Lebendigkeit und Wesen an die Kraft der Urmaterie erinnern; die Formensprache widersetzt sich traditionellen Gestaltungsprinzipien und den Stilkonventionen früherer Arbeiten des Künstlers.
Große Leinwandformate eigneten sich am besten für den Gebrauch der Farbpistole. Bei den so geschaffenen Arbeiten bringt der dezentrale, unterschiedlich dichte Farbauftrag auf der Leinwand Hartungs Begriff von der Beziehung zwischen Bild,
Materie und Energie zum Ausdruck.
Das Farbspektrum reicht von Hell- bis Dunkelblau, von Zitronengelb zu Rot
und Schwarz.
Hartungs späte Arbeiten wären zweifellos nicht entstanden, hätte er nicht zufällig die Pestizidpistole entdeckt, und doch sind sie alles andere als beliebig: Paradoxerweise scheint ihm gerade der nahende Tod die Freiheit gegeben zu haben, über das Gewohnte hinauszugehen, hat gerade der Verlust der physischen und geistigen Kräfte eine neue künstlerische Empfindsamkeit in ihm geweckt. Er behielt zeitlebens seine Freude an der Malerei und widmete sich der Beziehung von Affekt und Ausdruck, die stets im Mittelpunkt seines Experimentierens gestanden war.
INFORMATIONEN zur AUKTION
Contemporary Art auction, 24 June 2020
Palais Dorotheum, Dorotheergasse 17, 1010 Wien
20c.paintings@dorotheum.at
Tel. +43-1-515 60-358, 386