Ein Bericht über den Verfall der Sittlichkeit und den Aufbruch in die Moderne
Im Februar vor 103 Jahren fand die legendäre Armory Show statt. Sie markierte einen Wendepunkt in der Geschichte der modernen Kunst wie manche meinen, auch in den amerikanischen Moralvorstellungen. Die Armory Show von 1913, die Vorläuferin der heutigen Kunstmessen, war die erste Ausstellung in den Vereinigten Staaten, bei der die europäische Avantgarde, die Fauves, Kubisten und Futuristen, ihre Werke ausstellten.
Das Wort „Amerika“ ist heute ein Synonym für Modernität, ein unverrückbares Selbstbewusstsein und Toleranz. Eine Supermacht in allen Belangen, sei es kulturell, wirtschaftlich und militärisch. Heute sind die Vereinigten Staaten Vorreiter, wenn es um radikale und moderne Kunst geht. Das war aber nicht immer so. Anfang des 20. Jahrhunderts waren es europäische Künstler wie Picasso, Matisse, Duchamp und die Sezessionisten, die „skandalöse“ künstlerische Trends setzten, während über dem Teich die alternden Realisten der Goldenen Zeit, wie Singer Sargent und Vanderbilts, auf Rhode Island, damit aufhörten importierte französische Architektur, für die Crème de la Crème, nachzubauen.
Nach eifriger Planung, wurden vom 17. Februar bis 15. März unter anderem Kunstwerke von Picasso, Matisse, Duchamp, Gauguin, Cézanne, Van Gogh und Monet zum Vergnügen der amerikanischen Öffentlichkeit (in vielen Fällen zum Unmut) ausgestellt. Walter Kuhn, Maler und ausführender Verantwortliche der Show, unternahm ein Jahr zuvor eine Reise durch Europa, mit dem Ziel Schlüsselbeispiele zukunftsweisender Künstler der europäischen Moderne zu erwerben. Während viele amerikanische Künstler ohnehin längere Zeit in Europa, als Teil ihrer künstlerischen Ausbildung, verbrachten, war Modernismus für die amerikanische Öffentlichkeit ungewohnt und radikal. Während der Planung der Show im Jahr 1912 kündigte Kuhn an, „Wir werden New York etwas zeigen, wovon es noch nicht einmal geträumt hat“. Kuhn sollte Recht behalten.
Der Hauptverdächtige
Der Inhalt der Show verursachte schlagartig einen Skandal. Die Öffentlichkeit fühlte sich vor den Kopf gestoßen und vor allem Marcel Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend, verstimmte die Gemüter. Das Kunstwerk, das bereits von den Pariser Kubisten abgelehnt wurde, weil es zu futuristisch sei, erntete von der New Yorker Bevölkerung Spott und Hohn. Duchamps sukzessive Bewegung suggerierende Überlagerung von Bildern, wurde in einer Karikatur der New York Evening Sun mit dem Titel „Der Ungehobelte, eine Treppe herabsteigend (Stoßzeiten in der U-Bahn)“ durch den Kakao gezogen.
Eine der abfälligsten Bemerkungen über das Gemälde Duchamps machte der ehemalige Präsident Theodore Roosevelt. Nach seinem Rundgang durch die Ausstellung, schrieb Roosevelt eine Kritik über die Kunst, die er gesehen hatte. Interessanterweise war sein Lob für die Arbeiten der amerikanischen Künstler eher bescheiden, er äußerte tiefe Anerkennung gegenüber den europäischen Meistern Monet und Cezanne. Seine Verachtung für andere europäische Kunst, insbesondere für unseren Liebling Duchamp, war harsch. In einem aus heutiger Sicht eher amüsanten Abschnitt seiner Kritik verglich Roosevelt das Meisterwerk Duchamps mit einem seiner Teppiche: „Es gibt in meinem Badezimmer einen wirklich schönen Navajo-Teppich. Dieser stellt, berücksichtigt man jede noch so verständliche Interpretation über die Theorie der Kubisten, ein weitaus zufriedenstellenderes Ergebnis dar“, so Roosevelt. Der ehemalige Präsident meinte weiter, „dass Kubismus für Kunst so viel Wert hat wie Unsinns-Reime für Literatur“. Trotz all dieser Kritik war die Armory Show ein großer Triumph. Sie verlangsamte den Vormarsch des amerikanischen post-impressionistischen Realismus und öffnete der Nation die Tür zum Modernismus. Die Armory Show gilt als Schlüsselmoment einer Entwicklung, die das Erbe nachfolgender amerikanischer Kunstströmungen bildet.
„The Show Must Go On”
Eine weitere Kontroverse entstand um das Bild „Blauer Akt (Erinnerung an Biskra)“ von Matisse. Nachdem die französische Öffentlichkeit bereits sechs Jahre zuvor diese fauvistische Arbeit abgelehnt hatte, die Inspiration für Picassos „Les Demoiselles d’Avignon“ gewesen sein soll, ebenfalls von der amerikanische Bevölkerung mit dem Vorwurf moralischer Schamlosigkeit verschmäht. Die Bevölkerung forderte für dieses Bild, zusammen mit anderen kubistischen Werken, eine Zensur der Bilder.
Als die Armory Show nach Chicago wanderte, eine Stadt die heute gerade als ein Paradebeispiel für progressive Kultur und Politik gilt, versammelten sich Studenten um Abbildungen des Werks „Blauer Akt“ von Matisse zu verbrennen. Die folgende Schlagzeile konnte man in den lokalen Zeitungen lesen: Kubistenkunst wird untersucht; Illinois Legislative untersucht den moralischen Wert der Kunst, die uns so empfohlen wird. (Ottumwa Tri-Weekly Courier, Iowa, 3 April 1913).
Beurteilt man Roosevelts Anschauungen vor dem Hintergrund der Moralvorstellungen um die Jahrhundertwende erkennt man schnell, dass heute Kubismus wohl die kleinste Sorge des Theodore Roosevelts wäre. Wäre er mit heutigen Moralvorstellungen konfrontiert, er müsste seine Teppich-Vergleiche wohl neu formulieren. Vielleicht am meisten spricht für den Erfolg der Armory Show die Tatsache, dass während in jenen Tagen die Gleichgesinnten Roosevelts, beim „Ottumwa Courier“, so eingängigen Schlagzeilen wie „Höhere Camping Gebühren im Ottumwa Park ab 1. April“ publizieren, (Schlagzeile, Februar 2016), heute Picassos Gemälde für bis zu 175.000.000 US-Dollar verkauft werden und nicht weit vom Geburtsort der amerikanischen Verfassung im Philadelphia Museum of Art, Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend besichtigt werden kann.