Erstmals wurde die „Geburt Christi“ im Zusammenhang mit der Memling-Ausstellung, die das Brügger Groeningemuseum anlässlich des 500. Todestages des Künstlers 1994 organisierte, einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Es gehört zu den bedeutenden Entdeckungen der altniederländischen Tafelmalerei des ausgehenden 15. Jahrhunderts in jüngerer Zeit.
Die in erstaunlich gutem Zustand bewahrte Tafel variiert eine von Hans Memling bedachte Bilderfindung der Geburt Christi, die das Jesuskind in einer romanischen Sakralruine situiert. Ihr liegt eine im Spätmittelalter äußerst populäre Vision der Heiligen Brigitta von Schweden zugrunde. Das gegen 1500 unstrittig in Brügge entstandene Tafelbild wandelt die Bilderfindung Memlings ab, der das Thema der Geburt Christi seinerseits in Anlehnung an Vorlagen seines Brüsseler Lehrmeisters Rogier van der Weyden gestaltet hatte.
Die älteste überlieferte Geburtsszene aus der Werkstatt Memlings findet sich auf dem linken Flügel des um 1470/75 vollendeten Triptychons „Anbetung der Könige“, das im Museo del Prado in Madrid bewahrt wird und der hier vorgestellten Tafel sowohl hinsichtlich des Formats als auch der verwendeten Bildmotive gleicht. Bedeutend kleiner gestaltete Memling die Geburtsszene auf dem Flügel des mit 1479 datierten Triptychons von Jan Floreins, das zu den Hauptwerken im Gemäldebestand des Brügger Sint-Janshospitaals zählt.
Der enge Zusammenhang der Komposition mit den beiden bekannten Werken Memlings scheint auf den ersten Blick dafür zu sprechen, die Tafel als das Werk eines Nachfolgers zu klassifizieren; doch die Befunde jüngst erfolgter gemäldetechnologischer Untersuchungen legen eine andere Schlussfolgerung nahe. Denn die unter der Malschicht liegende Unterzeichnung, mit welcher der Maler die Komposition auf die Grundierung übertrug, gleicht hinsichtlich ihres grafischen Vokabulars den stilistisch überaus charakteristischen Unterzeichnungen Memlings in seinen reifen Werken. Typischerweise wurde in der Memling-Werkstatt ein trockenes Malmaterial wie Kreide zum Unterzeichnen der Konturen, Drapierungen und weiten Schraffen verwendet, die in mehreren Phasen aufgebracht und sowohl in der Unterzeichnung als auch während des eigentlichen Malvorganges kontinuierlich verändert wurden. Die zahlreichen Pentimenti (Spuren der Änderungen) lassen die Unterzeichungen Memlings mitunterchaotisch und unlesbar erscheinen; sie erforderten schon zu Lebzeiten des Künstlers mitunter klärende Konturen, welche die Grundelemente der jeweiligen Komposition unterstrichen.
Ansatzweise ist die besonders lockere und scheinbar spontane Art des Unterzeichnens ein Merkmal der „Geburt Christi“. Der Maler berief sich unzweifelhaft auf eine Musterzeichnung Memlings, die ihm zur Verfügung stand. Die Vorlage setzte er dann in der Unterzeichnung freilich in einer Weise um, die jener der beglaubigten Werke Memlings erstaunlich nahe steht. Der Maler der „Geburt Christi“ war nicht allein mit den Motiven Memlings, sondern auch mit der in dessen Werkstatt gepflegten Arbeitsweise derart vertraut, dass zwingend davon auszugehen ist, dass er zu den engen Mitarbeitern Memlings zählte. Damit nimmt die „Geburt Christi“ eine Schlüsselstellung im Bezug auf die künftige Erforschung der Memling-Werkstatt ein.
Dass Memling in Brügge erfolgreich eine effizient organisierte Werkstatt betrieb, in der mehrere Gehilfen gleichzeitig an der Ausführung der vielen Aufträge des Meisters beteiligt waren, legen nicht allein die zahlreich erhaltenen Gemälde Memlings nahe, die auf eine umfassende Produktion von Altarretabeln, Andachtsbildern und Porträts verweisen. Auch die Tatsache, dass er 1480 und 1483 zwei Lehrlinge in seiner Werkstatt ausbildete, spricht für die Existenz eines blühenden Ateliers. Gehilfen und Mitarbeiter einer spätmittelalterlichen Malerwerkstatt pflegten einen Kollektivstil und waren vor allem darin geschickt, den Stil und die Malweise des Meisters perfekt nachzuahmen. In den seltensten Fällen ist es daher möglich, die Hand eines Gehilfen in mehreren Gemälden einer Werkstatt zu erkennen, und jene Memlings ist hierin keine Ausnahme.
Dass sich die „Geburt Christi“ trotz allem hinsichtlich der Malweise und der Oberflächengestaltung subtil von Memling absetzt, hängt womöglich damit zusammen, dass er bereits verstorben war, als das Gemälde entstand. Denkbar wäre, dass ein Mitarbeiter der Werkstatt entweder einen unvollendet hinterlassenen Auftrag nach dem Tod des Meisters vollendete oder dass er nach dessen Tod einen eigenen Auftrag erhielt und sich mit seiner Malerei einen Namen machen wollte.
Video: Hans Memling Werkstatt | Die Geburt Christi | Auktion Alte Meister Gemälde am Dienstag, den 19. April 2016
Information: Alexander Strasoldo und Damian Brenninkmeyer, Experten für Alte Meister
Auktion, Dienstag, 19. April, 17 Uhr
Besichtigung ab Samstag. 9. April 2016
im Palais Dorotheum Wien