Kunst, Freiheit, Innovation: Carla Accardi & Piero Dorazio

Carla Accardi, Azzurro-Rosso n. 2, 1961, Kasein-Tempera auf Leinwand, 82 x 130 cm, Schätzwert € 100.000 – 150.000

Kunstwerke der italienischen Avantgarde gehören seit Langem zu den Höhepunkten der Dorotheum-Auktionen Zeitgenössischer Kunst. Zwei Arbeiten von Carla Accardi und Piero Dorazio zeigen eindrucksvoll die Vitalität und die innovative Kraft der Gruppo Forma 1.

Zu einer der bedeutendsten künstlerischen Bewegungen der Nachkriegszeit entwickelte sich die 1947 von Künstlern, Kritikern und Intellektuellen – unter ihnen Carla Accardi, Piero Dorazio, Antonio Sanfilippo und Giulio Turcato – gegründete Gruppo Forma 1. Mit ihren Positionen steckte sie nicht nur den Rahmen für die abstrakte Kunst in Italien neu ab, sondern trat zugleich auch in einen Dialog mit internationalen Avantgarden. Ihre Mitglieder strebten danach, figurative Konventionen zu überwinden und eine künstlerische Sprache auszuloten, die auf der Reinheit von Form, Farbe und Zeichen beruht. Auch wenn sie unterschiedliche künstlerische Zugänge hatten, einte Carla Accardi und Piero Dorazio doch ihr Einsatz für das Experiment und den formalen Purismus. Sie trugen damit maßgeblich zur Entwicklung der italienischen abstrakten Kunst und deren internationaler Anerkennung bei. Ihre Werke sind Zeugnisse einer Ära großer kreativer Umbrüche, in der Kunst ein neues Bewusstsein von Freiheit und Innovation transportierte.

Carla Accardi verwandelte in ihrer vibrierenden poetischen Malerei das Zeichen in ein dynamisches und lebendiges Bildelement. Waren ihre Werke zunächst in Schwarz-Weiß gehalten, zeichneten sie sich bald durch leuchtende Farbigkeit und eine einzigartige Synthese der Formen aus. Kontinuierlich experimentierte Accardi mit Materialien und Techniken. Ihr Werk spiegelt die ständige Erforschung der Bildsprache wider – ein fortwährender Balanceakt, in dem organische Formen mit geometrischen Strukturen in harmonischen Einklang gebracht werden.

Gruppo Forma 1: Pietro Consagra, Mino Guerrini, Ugo Attardi, Carla Accardi, Achille Perilli, Antonio Sanfilippo und Piero Dorazio 1947 in Rom
Gruppo Forma 1: Pietro Consagra, Mino Guerrini, Ugo Attardi, Carla Accardi, Achille Perilli, Antonio Sanfilippo und Piero Dorazio 1947 in Rom

Piero Dorazio, Pionier der abstrakten Malerei, konzentrierte sich auf die Zerlegung von Licht und Farbe. Seine Werke, oft aus Linienrastern und Farbfeldern aufgebaut, schaffen leuchtende Gewebe, die eine visuelle Dynamik hervorrufen, wie sie teilweise durch Ballas Experimente in den „Compenetrazioni iridescenti“ vorweggenommen wurden. Dorazio, der Balla häufig in seinem Haus in der Via Oslavia in Rom besuchte, erkannte als einer der Ersten den innovativen Charakter von Ballas Studien. Er entdeckte sein Werk 1958 bis 1960 wieder, zu einer Zeit, als Balla wegen seiner Verbindung mit dem Faschismus – so wie der Futurismus im Allgemeinen – noch unter die damnatio memoriae fiel und abgelehnt wurde. Zu dieser Zeit stand Dorazio kurz vor dem Durchbruch. Die folgende künstlerische Entwicklung sollte ihn über die nationalen Grenzen hinweg zu einem intensiven Austausch mit abstrakten Bewegungen in Übersee wie dem Abstrakten Expressionismus und dem Minimalismus (man denke an Rothko, Stella und Albers) führen – ein richtungsweisender Brückenschlag zwischen Tradition und Moderne.

Die im Mai zur Auktion gelangenden Werke von Carla Accardi und Piero Dorazio bieten außergewöhnliche Einblicke in diese revolutionäre Kunstepoche. Sie zeugen von der Vitalität und dem Einfluss der Gruppo Forma 1 auf die Neudefinition der Sprache der zeitgenössischen Malerei. Ihre Gemälde reflektieren eine Ära, in der Kunst zu einem Mittel wurde, die Welt in einer perfekten Synthese aus formaler Strenge und kreativer Freiheit zu interpretieren.

Piero Dorazio, Ohne Titel, 1962, Öl auf Leinwand, 100 x 81 cm, Schätzwert € 250.000 – 350.000
Piero Dorazio, Ohne Titel, 1962, Öl auf Leinwand, 100 x 81 cm, Schätzwert € 250.000 – 350.000

Carla Accardis Gemälde von 1961 ist ein eindrucksvolles Beispiel für die stilistische Reife der Künstlerin in der Zeit nach der Gruppo Forma 1. In dem Werk kommt ihre charakteristische Zeichensprache zum Ausdruck: ein dynamisches Netzwerk abstrakter, fast kalligrafischer Formen, die vor einem farbig leuchtenden Hintergrund miteinander verwoben sind. Der Kontrast zwischen Blau und Rot gibt dem Werk eine starke visuelle Intensität und evoziert einen Dialog zwischen Struktur und gestischer Freiheit. Das Zeichen wird zum Hauptelement der Komposition und verwandelt sich in reine visuelle Energie. Das Gemälde spiegelt auch das Interesse der Künstlerin an der flachen Oberfläche und den optischen Effekten wider, die durch Farbschichten erzeugt werden. Es nimmt einige von Accardis späteren Experimenten mit Sicofoil vorweg.

Dorazios unbetiteltes Kunstwerk von 1962 – ein komplexes Geflecht aus lebhaften Linien und Farbfeldern – wird zu einer visuellen Textur, die das Licht einfängt, bricht und eine optische Dynamik erzeugt, die den Betrachter in ihren Bann zieht. Dorazio verwandelt geometrische Strukturen in ein Wahrnehmungserlebnis. Er zeigt damit auf, dass Abstraktion beides sein kann: ein gleichermaßen strenges wie poetisches Meisterwerk, das sein Streben nach einer freien und universellen Kunst zum Ausdruck bringt.

Carla Accardi, Azzurro-Rosso n. 2, 1961, Kasein-Tempera auf Leinwand, 82 x 130 cm, Schätzwert € 100.000 – 150.000
Carla Accardi, Azzurro-Rosso n. 2, 1961, Kasein-Tempera auf Leinwand, 82 x 130 cm, Schätzwert € 100.000 – 150.000

AUKTION

Zeitgenössische Kunst I, 21. Mai 2025, 18 Uhr
Palais Dorotheum, Dorotheergasse 17, 1010 Wien

20c.paintings@dorotheum.at
Tel. +43-1-515 60-358, 386

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