
Werke von Giorgio de Chirico, Victor Brauner und Francis Picabia stehen beispielhaft für eine schwer zu enträtselnde Kunst, die mehr Fragen stellt, als dass sie Antworten gibt. Ein Spiegelkabinett, metaphysisch oder surreal, zwischen Struktur und Abgrund, Form und Auflösung.
Es gibt Werke, die still und geduldig darauf zu warten scheinen, von Blicken gestreift zu werden. Sie suchen nicht nach Antworten, setzen diese vielmehr außer Kraft. Werke von solch geheimnisvoller Dimension durchziehen die Kunst des 20. Jahrhunderts. Drei außergewöhnliche Beispiele dafür werden in der bevorstehenden Moderne-Auktion angeboten.
Das erste ist eine „Piazza d’Italia“ von Giorgio de Chirico. Das Werk gibt den metaphysischen Schwindel seiner lautlosen Architekturen und unbewegten Figuren wieder und versetzt die Betrachtenden in eine als aionisch zu bezeichnende Stimmung. Aión, die ewige Zeit, die den Gegenpol zur chronologischen (chrónos) und zur existentiellen (kairós) Zeit bildet, breitet sich gleich einem stillen Schleier über das Bild aus. Das Reiterdenkmal verherrlicht keinen menschlichen Sieg, sondern ragt als Simulakrum einer Zeit empor, die keinen Wandel kennt. Der Schornstein in der Ferne verweist auf abseits gelegene Industrie – ein vieldeutiges Zeichen zwischen der klassischen Vergangenheit und der industriellen Moderne. Die beiden Figuren, die lange Schatten werfen, scheinen seit Ewigkeiten bewegungslos zu sein, in immerwährendes Zwielicht verbannt, das jede zeitliche Gewissheit auflöst. Es ist kein zu erlebender Augenblick, sondern eine zu betrachtende Zeit, die weder Anfang noch Ende kennt.
Von völlig anderem Charakter, aber nicht weniger verwirrend ist Victor Brauners Gemälde „Vertige“. Sich jeder Logik einer linearen Entschlüsselung entziehend, zeigt es eine visuelle Apparatur, die gleichermaßen mechanisch wie organisch erscheint. Ein zentrales Objekt, das an ein dystopisches Klavier erinnern mag, ist einer kreisförmigen Struktur – vielleicht ein Beschleuniger, vielleicht ein visionäres Konstrukt ohne erkennbare Funktion – eingeschrieben. Man erkennt den Widerhall von Mattas Kompositionen in der Spannung zwischen Form und Auflösung, zwischen Konstruktion und Abgrund. Das Ganze ist verstörend: Brauners Maschine spielt keine Musik; sie beschwört vielleicht eine Sprache, die wir nicht mehr verstehen. Einem desillusionierten Orakel gleich, wirft das Werk nur Fragen auf.
Das letzte der drei Werke ist eine „Composition abstraite“ Francis Picabias aus dem Jahr 1947. In dieser späten Phase seines Schaffens spielt Picabia mit den Grenzen der Abstraktion, ohne jedoch gänzlich auf die Wiedererkennbarkeit zu verzichten. Die Formen zeigen sich für einen Augenblick, um dann hinter einem Vorhang aus Farbe und Linie zu verschwinden. Auf der Leinwand können wir den nächtlichen Ausbruch eines Vulkans als plötzliches Leuchten, das eine dunkle Landschaft erhellt, erkennen, oder zumindest erahnen. Vielleicht handelt es sich auch um eine erotische Erscheinung… um eines jener Bilder, die aus dem Unbewussten an die Oberfläche drängen und wieder verschwinden, ehe der Verstand sie noch zu erfassen vermag. Gesichter, menschliche Profile, primitive Götzen scheinen aufzutauchen, sind aber schwer greifbar: Ihre Wahrheit ist ein Spiegelbild, das uns entgleitet, sobald wir glauben, es erkannt zu haben. Dieses Gemälde bestätigt, dass Picabia ein Meister der Verstellung ist: Jede Offenbarung entpuppt sich als Spiel der Spiegel.
Die drei Werke teilen ein Los: Sie bergen ein Geheimnis, das sich nicht enthüllen lässt. Vielleicht verleiht ihnen auch gerade das ihre Kraft und ihre unwiderstehliche Faszination. Sie geben sich nie vollständig preis, sie suchen keine Antworten noch bieten sie sichere Anhaltspunkte. Sie existieren einfach, hüten ein Rätsel, das sich mit jedem Blick aufs Neue auftut – als sei der Betrachter nicht zum Entschlüsseln, sondern zum Verweilen in jenem schwebenden Moment aufgerufen, in dem alles zu einer Frage wird.
AUKTION
Moderne, 20. Mai 2025, 18 Uhr
Palais Dorotheum, Dorotheergasse 17, 1010 Wien
20c.paintings@dorotheum.at
Tel. +43-1-515 60-358, 386