Frauenpower
Sie holte die Renaissance-Malerin Artemisia Gentileschi in den 1970ern aus der Vergessenheit: Germaine Greer, weltbekannte Intellektuelle, Vordenkerin und feministische Autorin, über das Dilemma autobiografischer Interpretationen, Traditions- und Wut(aus)brüche.
Die in Großbritannien lebende australische Autorin und Journalistin Germaine Greer schrieb 1970 mit „Der weibliche Eunuch“ feministische Geschichte. Im Oktober wird im Dorotheum ein Gemälde von Artemisia Gentileschi angeboten – ein perfekter Anlass, die ebenso kontroverse wie scharfzüngige Literatur- und Kunstgeschichte-Expertin zum Gespräch mit Dorotheum myART MAGAZINE zu bitten.
In Ihrem Buch „The Obstacle Race“ haben Sie als eine der Ersten über Artemisia Gentileschi und eine Reihe anderer weitgehend in Vergessenheit geratener Malerinnen geschrieben. Darin zeigen Sie, wie tiefgreifend die wechselnden Arbeitsbedingungen von der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert das schöpferische Leben von Künstlerinnen geprägt haben. Woher das Interesse an vergessenen Künstlerinnen?
Germaine Greer: Nach meinem Buch „Der weibliche Eunuch“, das die Kastration von Frauen behandelt, wollte ich über die Unterdrückung weiblicher Kreativität schreiben. Dass Frauen meinten, keine Kreativität zu besitzen, war für mich ein unerträglicher Gedanke. Als ich das Weltbild von Frauen und ihre Bilder beschrieb, stellte ich fest, dass viele der von mir erwähnten Künstlerinnen weitgehend unbekannt waren. Also beschloss ich, mich auf eine Reise auf der Suche nach Kunst von Frauen zu begeben und einen Führer mit vielen Bildern von wenig bekannten Arbeiten von Künstlerinnen herauszubringen.
Artemisia Gentileschi
Wie sind Sie auf Artemisia Gentileschis Gemälde gestoßen?
Bei meinen Recherchen fiel mir auf, dass viele Künstlerinnen kleine Arbeiten angefertigt hatten – klein im Sinne der Größe und der Konzeption. Ich suchte eine Künstlerin, die in Lebens- und Monumentalgröße gearbeitet hatte. Eines Tages fand ich diese Künstlerin in den Collezioni Comunali d’Arte in Bologna: Artemisia Gentileschi. Bei dem Bild handelte es sich um ein lebensgroßes Porträt eines Mannes, der heute meist „Gonfaloniere“ genannt wird; es war von Artemisia signiert und auf das Jahr 1622 datiert. Ich war hin und weg von der Bravura! Gentileschi hatte es verstanden, den Bildraum perfekt zu nutzen und die Aufmerksamkeit des Betrachters auf jeden Aspekt ihres suggestiven Bildnisses zu lenken. Jedes Detail ist voller Leben und Information. Die Galerie aber schien wenig interessiert, Aufmerksamkeit auf das Bild zu lenken; es war nicht einmal entsprechend beleuchtet. Ich dachte mir: You can do it, girls! So groß zu denken, mit solcher Entschlossenheit zu konzipieren – you can do it!
Wenn man bedenkt, wie wenig Beachtung Artemisia geschenkt worden war, muss es schwer gewesen sein, überhaupt Quellen und Forschungsmaterial zu finden.
Ich wollte keine Lücke mit Vermutungen füllen, sondern die Wahrheit über Artemisia herausfinden. Heute wird ihr auf Tausenden von Seiten eine Verbindung mit jedem Maler nachgesagt, der je in Italien gelebt hat. Ich machte in Bologna ein Polaroid-Foto, aber es war zu dunkel, um die Details erkennen zu können. Also fertigte ich eine Skizze in meinem Notizbuch an. Mir war nie zuvor eine Nachbildung des Gemäldes untergekommen. Ich stellte in Rom Nachforschungen an und studierte die Dokumentation des Prozesses gegen ihren Lehrer Agostino Tassi, den man beschuldigt hatte, Artemisia vergewaltigt und zwei Werke ihres Vaters Orazio Gentileschi gestohlen zu haben. Es war frustrierend, weil so viel Material fehlte; ich musste mir alles zusammensuchen.
Zu welcher Erkenntnis sind Sie gekommen?
Ich begriff, dass ihr Vater den Prozess angestrengt hatte, um die Bilder zurückzubekommen, die Tassi möglicherweise als Vorschuss auf ihre Mitgift an sich genommen hatte. Ihr Vater hatte den Fehler gemacht, sie von Tassi unterrichten zu lassen, von dem sie betrogen wurde. Obwohl sie im Zuge des Prozesses gefoltert wurde, verlor sie nie den Mut. Als man ihr die Finger quetschte, ertrug sie die Qualen, zeigte ihre Hände und sagte wieder und wieder zu Tassi: „Diese Ringe sind das Versprechen, das Ihr mir gegeben habt.“ Sie stand jedoch in der Gunst der Großherzogin der Toskana, die ihr meines Wissens eine Mitgift zukommen ließ, damit sie heiraten konnte. Ihr Leben war also nicht zu vergleichen mit dem eines männlichen Künstlers. Artemisia hatte weder Schüler noch ein Atelier. Sie hätte als Malerin eine der Größten werden können.
Heißt das, dass sie in ihren Werken nur zehn Prozent ihrer Möglichkeiten ausschöpfte?
Wenn überhaupt. Ihre Schaffensperiode umfasst fünf Jahrzehnte. Nach bisheriger Einschätzung hätte sie weniger als ein Bild pro Jahr gemalt.
Faszination Künstlerin
Seit Ihr Buch veröffentlicht ist, herrscht immer mehr Rummel um Artemisia. Was macht sie aus heutiger Sicht so faszinierend?
Ein Teil ihrer Aktualität rührt daher, dass sie eine Feministin gewesen sein soll. Für mich ergibt das keinen Sinn. Artemisia musste hart arbeiten, wurde ständig ausgebeutet und brachte ihren Zorn zum Ausdruck. Was ihr tatsächlich gelang – und das macht sie bis heute so aktuell –, war, mit den Codes, Konventionen und der Ästhetik der Maltradition zu brechen. Nicht in allen Arbeiten, ganz sicher aber bei „Judith enthauptet Holofernes“, um ein Beispiel zu nennen.
Artemisia zog alle Register vom Masochismus über Selbstmord bis hin zur Köpfung von Männern. Werden wir je erfahren, was davon von ihr kam und was die Auftraggeber so haben wollten?
Das Schlimme ist, dass keine Skizzen von Artemisia erhalten sind, sonst könnten wir ihre „Handschrift“ lesen und wüssten mehr.
In Ihrem Buch „The Obstacle Race“ beschreiben Sie Artemisia Gentileschi als „magnificent exception“, als „brillante Ausnahmefrau“. Sehen Sie in ihr eine Ausnahmepersönlichkeit, ein bedeutendes historisches Vorbild für alle Frauen, nicht nur für Künstlerinnen?
In Hinblick auf ihre Rezeption über die Jahrhunderte kann man das so nicht sagen. Eine ihrer frühesten Arbeiten, „Susanna und die Ältesten“ – sie malte sie mit 17 Jahren –, ist eine wunderbare Studie eines jugendlichen Frauenkörpers. Handelt es sich hier tatsächlich um ihren Körper? Es ärgert mich, dass ständig über Artemisia geschrieben wird, ihre Arbeiten seien autobiografisch. Dieses Verbrechen wird immer und immer wieder an Frauen begangen – ihnen zu unterstellen, sie seien ihr eigenes Motiv. Simone de Beauvoir meinte, Künstlerinnen seien durch die Konzentration auf ihr eigenes Bewusstsein verblendet und würden sich dadurch vom Gegenstand der Kunst entfernen.
Autobiographisch
Die Vergewaltigung wurde gewissermaßen zu ihrer Lebensgeschichte …
… und jedes Mal, wenn sie einen Pinsel in die Hand nahm, war sie Opfer einer Vergewaltigung … Ich bitte Sie! Sie hatte vier Entbindungen und einen Nichtsnutz zum Mann, wegen dem sie verschuldet war und den sie schließlich verließ … Ich kann die offizielle Interpretation des von der National Gallery in London angekauften „Selbstporträts als Heilige Katharina von Alexandrien“ nicht nachvollziehen. Da heißt es, das Rad sei eine Anspielung auf Artemisia’s Vergewaltigung. Nein, ist es nicht! Es ist ein Attribut der heiligen Katharina. Warum sollte Artemisia sich als Märtyrerin darstellen? Natürlich war sie voller Zorn, und gerade das macht ja ihre Bilder so aufregend – der geballte Zorn darin. Als Betrachter bekommt man regelrecht einen Schlag versetzt. Aber das Bild stellt weder sie dar noch handelt es von ihr. Angelika Kaufmann verbrannte alles, was ihr Leben dokumentierte, weil sie nicht zu ihrer eigenen Biografie werden wollte. Sie wusste sich vom Gossip zu befreien und es zu vermeiden, zu einer Legende zu werden. Jetzt müssen wir auch unsere Artemisia vom Gossip befreien, indem wir ihr Werk neu beleuchten.