Doris Knecht im myARTMAGAZINE

Österreichische Autorinnen und Autoren gehen im Dorotheum myART MAGAZINE in Serie – in diesem Fall nehmen sie im Dorotheum angebotene Kunstwerke als literarischen Ausgangspunkt. Nach Heinrich Steinfest und seiner Science Fiction Geschichte (myART MAGAZINE Nr. 13) führt die Schriftstellerin Doris Knecht die Titelheldin Judith in einem rasanten inneren Monolog einer Tat zu. Altes Testament, reloaded.

JUDITH

von Doris Knecht

Pseudo – de Vos (tätig in Antwerpen um 1570), Allegorische Szene mit Judith und Holofernes, Öl auf Holz, 96 x 125 cm, Schätzwert € 30.000 – 50.000

Vier Tage noch hat Gott Zeit, Betulia zu retten. Wir haben kein Wasser mehr. Den Assyrern ist es nicht gelungen, nach Betulia hereinzubrechen, aber sie haben die Wasserleitung zur Stadt abgeschnitten, wir werden verdursten, wenn wir uns nicht ergeben, wenn uns Gott nicht hilft. Seit fünfunddreißig Tagen belagern sie uns, sie haben uns eingeschlossen. Ich kann meine Tiere nicht mehr tränken, sie schreien Tag und Nacht, die Felder verdorren, die Menschen sind verzweifelt, das Klagen ist unaufhörlich und die Hoffnung schwindet. Was sollen wir tun? Wir halten nicht mehr lange durch. Wir haben zu Gott gebetet, jeden Tag, aber er hat uns kein Zeichen geschickt. Er hat uns nicht geholfen, er hilft uns nicht. Gestern haben die Weisen Gott ein Ultimatum gestellt, die Magd hat es mir erzählt, sie war am Brunnen, am leeren Brunnen, drängte sich dort mit den anderen Mägden und ihren Krügen, dabei ist kein Wasser mehr da, nichts mehr, nichts zu holen, außer Gejammer, Geklage, Geschichten, Gerüchte. Sie haben Gott ein Ultimatum gestellt, dass er Rettung schicke in den nächsten fünf Tagen, und wenn er keine Hilfe schickt, wird die Stadt aufgegeben und alle ihre Menschen darin, und die Belagerer werden uns vernichten, wie sie zuvor alle vernichtet haben, die sich ihnen entgegenstellten. Wir sind verloren, wenn Gott uns jetzt nicht hilft, wir sind verloren.

Ich lag wach in der Nacht, voller Angst, in meinem Gemach lauerten Schatten, draußen zog langsam der Mond vorbei, voll und rund. Es war so heiß. Ich warf das Leinen von mir, meine nackte Haut war nass. Ich dachte an Manasse, meinen Manasse, und ich vermisste ihn so sehr. Ich dachte, dass meine Angst weniger groß wäre, wenn er hier bei mir läge. Drei Jahre ist er schon tot, vor drei Jahren hat ihn Gott geholt, während der Arbeit auf dem Feld, die Sonne brannte auf ihn nieder, die Hitze erschlug ihn, und jetzt bin ich allein mit meinen Sorgen in der Nacht und der großen Angst, die uns Tag und Nacht verfolgt. Wir sind belagert, umzingelt, eingeschlossen. Wir werden verdursten, wir werden verhungern, wenn Gott uns nicht hilft. Die Stimmen, dass wir kapitulieren, uns ergeben sollen, werden lauter. Als würden wir dann nicht auch sterben. Als würden sie dann nicht uns und unsere Kinder massakrieren, als wären wir dann nicht sowieso alle tot. Am Tag gibt es Arbeit, Felder und Tiere, Diener und Mägde und Gespräche, und Gott, dem ich vertraue, am Tag drängt sich ein bisschen Hoffnung in mich, dass er Rettung schickt. Aber die Nächte sind finster und still, nur das Weinen der Kinder dringt in die Finsternis und das Klagen der Tiere, und Manasse ist nicht da, um mir meine Angst zu nehmen.

Nach seinem Tod, nach der Trauerzeit sagten die Leute: Du bist immer noch schön, ein anderer Mann wird dich nehmen, du wirst noch eine Familie haben, noch Kinder, du bist noch jung, du bist so schön. Ich wollte keinen anderen. Ich wollte immer nur Manasse, nie einen anderen, auch nachdem er gestorben war. Ich dachte, vielleicht habe ich jetzt, nach Manasses Tod, einen anderen Platz im Leben, eine andere Aufgabe. Und als meine Trauer allmählich nachließ, spürte ich eine Kraft in mir, von der ich nichts geahnt, die ich mir nicht zugetraut hatte, solange Manasse dagewesen, solange er meine Kraft gewesen war. Manasses Muskeln waren meine gewesen, und seit er weg ist, spüre ich, dass ich eigene Muskeln habe und dass sie stärker werden. Und ich habe die Magd, die immer bei mir ist.

Ich lag wach, die halbe Nacht, lauschte dem leisen Schnarchen der Magd, das aus ihrer Kammer in mein Gemach drang, dann schlief ich ein. Und da schickte Gott mir den Traum. Sandte mir ein Bild: das Gesicht des Befehlshabers Holofernes. Ich weiß nicht, wie Holofernes aussieht, ich kenne nicht seine Züge, aber im Traum wusste ich, dass es Holofernes war. Es werden Geschichten über ihn erzählt, über seine monströse Grausamkeit, seine Bosheit, seine Gnadenlosigkeit. Aber das Antlitz des Holofernes in meinem Traum war ganz weich und völlig still, seine Haut unter dem schwarzen Haar war fast weiß, sein Mund stand leicht offen, seine Lider waren geschlossen. Doch plötzlich riss er im Traum seine Augen auf, und ein elementares, ewiges Entsetzen sprang mich aus diesen Augen an, ein schwarzer, endloser Abgrund, und von dem Schrecken erwachte ich. Und während ich allmählich zu mir kam, erinnerte ich mich an Blut und an ein riesiges Schwert mit reich verziertem Griff in einer zarten Hand, die es entschlossen umfasst hatte, und damit war ich endgültig wach. Mir wurde klar: Das war meine Hand. Meine Hand, mit dem goldenen Ring, den Manasse mir einst angesteckt hatte und den ich niemals ablege. Ich öffnete meine Augen, starrte in die noch dunkelgraue Dämmerung, und ich wusste, was zu tun war.

Und jetzt bin ich hier, mit meinem Traum. Ich habe die Magd mitgebracht. Die Alten und Weisen haben sich versammelt, verängstigt und zitternd wie kleine Kinder. Sie sind am Ende ihrer Kräfte, sie bestehen nur noch aus Angst, sie sind zur Kapitulation bereit, zur Unterwerfung. Sie haben zu Gott gebetet, sie haben Opfer gebracht, aber Gott scheint sie nicht zu hören, und sie verlieren ihr Vertrauen, diese Narren, ihr Glaube ist fragil und brüchig. Ihr Glaube ist nichts wert. Sie sind gottesfürchtig, aber schwach. Sie haben keine Hoffnung mehr; wie sollen sie auch? Aber ich weiß jetzt, was zu tun ist.

Als ich schließlich wach war, wusste ich, dass dies ein besonderer Tag werden würde, ein großer Tag, vielleicht der wichtigste. Ich hatte keine Angst. Es wurde langsam hell, ich konnte die Umrisse der Gegenstände im Raum sehen: Hocker, Tisch, Schüssel, Krug. Die Magd war schon aufgestanden und machte Feuer. Ich erhob mich aus dem Bett, dann betete ich, kleidete mich an, und als die Magd in mein Zimmer kam, sah ich in ihren Augen das Erstaunen, dass sie mich nicht in der Kleidung des Alltags und der Arbeit antraf, sondern in meinem Festgewand. Sie fragte nicht, ich aber berichtete ihr von meinem Traum, und sie nickte. Ich erzählte ihr von meinem Plan, und ich erblickte in ihrem Antlitz keine Sorge und kein Zögern. Sie hat Kraft in sich, wie ich. Sie ist meine Vertraute und mein Halt, seit Manasse mich verlassen hat. Sie half mir, das goldene Geschmeide anzulegen, das mir Manasse zu unserer Verheiratung geschenkt hatte. Er wäre einverstanden mit dem, was ich vorhabe, ich weiß es.

Jetzt bin ich hier, mit meinem Traum, bei den Weisen. Sie haben mich empfangen, überrascht über meinen Auftritt. Für sie bin ich nur eine schöne, schwache Frau, eine arme Witwe, gottesfürchtig und fleißig, die versucht, weiterzuleben nach dem Tod ihres Beschützers und Versorgers. Sie wundern sich, warum ich noch nicht eines anderen Mannes Frau geworden bin. Sie wissen nicht, was in mir steckt, sie wissen nichts von der Kraft, die in einer Frau stecken kann. Sie ahnen nicht die Macht ihres Willens und ihrer Gedanken, nicht ihren Mut und ihre Entschlossenheit.

Vier Tage noch. Ich werde Holofernes heute aufsuchen. Holofernes ist ein Mann, er ist ein Krieger, er ist seit vielen Jahren im Kampf. Männer, sie sind leicht zu benebeln von Frauen wie mir, Krieger noch mehr. Holofernes ist ein leichtes Ziel für mich. Ich weiß, was zu tun ist. Ich hatte einen Traum, und der Traum ist ein Auftrag. Ich weiß, was zu tun ist, und ich bin bereit.

 

Doris Knecht ist Kolumnistin („Falter “, „Vorarlberger Nachrichten“, „Standard“) und Schriftstellerin. Ihre Romane „Gruber geht“, „Besser“, „Wald“, „Alles über Beziehungen“ und zuletzt „weg“ sind bei Rowohlt Berlin erschienen. Sie lebt mit Familie und Freunden in Wien und im Waldviertel.

INFORMATIONEN zur AUKTION

Auktionsdatum: Alte Meister Auktion 22. Oktober 2019, 17:00 Uhr

Auktionsort: Palais Dorotheum, Dorotheergasse 17, 1010 Wien

Ausstellung: 12. Oktober 2019 – 22. Oktober 2019

Kontakt: Damian Brenninkmeyer, Experte für Alte Meister im Dorotheum

Schauen Sie sich jetzt die Auktionskataloge an und lesen Sie unser neues myARTMAGAZINE!

No Comments Yet

Comments are closed




Auktions-Höhepunkte, Rekord-Preise und spannende Kunst-Geschichten. Mit dem Dorotheum Blog sind Sie immer am Puls des Auktionsgeschehens!


Archive