“Marino Marini gibt dem Bild vom Pferd und Reiter die mythische Bedeutung zurück und zugleich den zeitgenössischen Ausdruck existenzieller Erfahrung. Wie in seiner Skulptur ist Marini auch in der malerischen Darstellung des Themas immer wieder an der Spannung zwischen dynamischen und statischen Formen interessiert.“1
Marino Marini konzentriert sich in seinem Werk auf wenige, uralte Motive – Pferd und Reiter, Akrobaten, die Gestalt der Frau und das Porträt – die er immer wieder kraftvoll neu variiert. Ausgehend von einer am klassischen Ideal orientierten künstlerischen Haltung und inspiriert vom Kubismus und der Kunst der Etrusker entwickelt er die für ihn charakteristische, archaisierende und abstrahierende Vereinfachung der Form. In seinen besonders einprägsamen Reiterbildnissen befasst er sich mit der inneren wie äußeren Beziehung zwischen Pferd und Reiter und gestaltet sie als Symbol für die tragische Existenz des Menschen und seine verlorene Beherrschung der Natur. So verhält es sich auch bei „Piccolo Miracolo“, einer 44 cm hohen Bronze von Marino Marini, die ein sich aufbäumendes Pferd mit stürzendem Reiter darstellt, und im Mai in der Moderne Auktion angeboten wird. Angesichts der leidvollen Erfahrungen des Krieges werden Marinis Darstellungen zu immer expressiveren und abstrakteren Verkörperungen eines Kampfes gegen die Verzweiflung und den Untergang. Damit gilt Marini neben Alberto Giacometti und Henry Moore als einer der herausragendsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts. In Zuge seiner internationalen Anerkennung nahm er unter anderem dreimal an der Kasseler documenta-Ausstellung teil; 1973 wurde ihm zu Ehren das Museo Marino Marini in der Mailänder Galleria Civica d‘Arte eröffnet, 1988 das Museo Marino Marini in Florenz.
Seit den späten 1940er-Jahren widmet Marini sich parallel zu seinem plastischen Werk auch verstärkt der Malerei und Grafik als eigenständigem Ausdrucksmittel. In dem Gemälde „Miracolo di Colore“ aus dem Jahr 1955 gestaltet er das Thema des stürzenden Reiters, dem Miracolo, aus der Rücken-Perspektive. Mit ihren weit gespreizten Beinen und den empor geworfenen Armen fällt dit7e Reitergestalt dem/der Betrachter*in förmlich entgegen; unter sich der schwerfällige Körper des Pferdes, das ebenfalls zu Boden gegangen ist und seinen Kopf mit überstrecktem Hals schmerzerfüllt in die Luft reckt. Im Zusammenspiel der expressiven Malweise und der kühnen und dennoch ausgewogenen Komposition entfaltet sich eine beeindruckende Dynamik, die der Haltlosigkeit des Reiters Ausdruck verleiht. Die eckigen, kubischen Flächen und Farben sind ausgehend von der Leibesmitte kontrapunktisch angeordnet. Die Körper von Mensch und Tier lösen sich in dieser Gliederung der Formen nahezu auf und verschmelzen zu einer emotionalen Einheit: Schönheit und Untergang, Selbstbehauptung und Entmachtung, Kraft und Katastrophe treffen hier aufeinander.
1Einleitung von Konstanze Crüwll-Doertenbach, in: Marino Marini. Malerei/Painture, Bad Homburg: Edition Scheffel, 1987, S. XXII.
Information: Patricia Pálffy ist Expertin für Moderne und Zeitgenössische Kunst im Dorotheum.
AUKTION
Moderne, 31. Mai 2022, 17 Uhr
Palais Dorotheum, Dorotheergasse 17, 1010 Wien
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