VIENNA ART WEEK: 18. – 25. November 2022

AUF DEN LEIM GEHEN

Bei den Open Studio Days der Vienna Art Week 2022 öffnen Künstlerinnen und Künstler wieder ihre Ateliers. Amira Ben Saoud besuchte für das Dorotheum MyART MAGAZINE Rafael Lippuner, Julia Haugeneder und Christiane Peschek vorab, um mit ihnen über ihre Auslegung des diesjährigen Mottos „Challenging Orders“, über Humor, Material und Identität zu sprechen. So unterschiedlich die Arbeiten der drei auch sind, eine Gemeinsamkeit haben sie: Nicht alles ist so, wie es auf den ersten Blick erscheint.

„So, wie ich deine Arbeit verstehe, geht es dabei viel um Interventionen im öffentlichen Raum. Und ein bisschen funny ist, was du machst, auch“, eröffne ich das Gespräch mit Rafael Lippuner, als ich ihn in seinem Atelier, einem der Studios von das weisse haus im ersten Wiener Bezirk, besuche – und lande damit gleich im Fettnäpfchen. „,Es ist lustig‘ ist mein Endgegner, das höre ich oft, und damit muss ich wohl leben“, schmunzelt er. Eigentlich geht es dem Schweizer Künstler, der 2019 an der Universität für angewandte Kunst sein Studium abschloss, um etwas anderes, oder besser: Seine Arbeiten können schon auch lustig sein, im Vordergrund stehen aber andere Themen.

Rafael Lippuner umgeben von
seinen „Chairs“, die wie die
fotografische Serie „Trajectories“
über Objekte in Bewegung zu seinen „Setups“ gehören.  Foto: Nikolaus Ostermann

Das wird klar, als Lippuner für unseren Fotografen beginnt, eine kleine Armee aus selbstgebauten, schwer dysfunktionalen Stühlen aufzustellen. Wobei „dysfunktional“ das falsche Wort ist. Sitzen kann man halt eher nicht auf ihnen, oder das nur kurz, bevor sie alle auf eine andere Weise zusammenbrechen oder sonstige raffinierte Faxen machen. Das heißt aber nicht, dass sie keine Funktion haben, ganz im Gegenteil. Die „Chairs“ gehören zu einer Arbeitspraxis Lippuners, die er „Setups“ nennt. Es handelt sich um installative Interventionen, die er für unterschiedliche Umgebungen – von öffentlichen Räumen bis zu institutionellen Settings – konzipiert. Vor allem seine Arbeit „in der Mitte der Gesellschaft“ ist spannend: Wie reagieren Menschen, die nichtsahnend auf einem Spaziergangmit so einem Objekt konfrontiert werden? Fällt es ihnen überhaupt auf? Ignorieren sie es? Schauen sie es an? Interagieren sie damit? Erkennen sie es als Kunst, und was bedeutet es, wenn sie das tun? Wird es erst dadurch Kunst, dass sie damit interagieren? Es geht um Zufälle und Erwartungshaltungen, Neugier und auch um Missverständnisse. Jedenfalls entspricht „Challenging Orders“, das Motto der diesjährigen Vienna Art Week, Lippuners ureigener Arbeitsweise. „Ich finde spannend, wie sich Ordnung auf einer materiellen Ebene, in Form von Maßen zum Beispiel, manifestiert. Stiegenhäuser, Türen und Stühle werden immer nur funktional gedacht. Die ,Order zu challengen‘ beginnt ja schon dort, wo man das hinterfragt.“

TRÜGERISCHE OBERFLÄCHE

Sie können mal hängen, mal liegen, mal stehen: Julia Haugeneder hat sich mit ihren „Faltungen“ bereits einen Namen gemacht. Foto: Nikolaus Ostermann

Während Lippuner vor allem mit gefundenen Materialien arbeitet, die er sich aneignet und auf ihre Potenziale hin abklopft, geht es bei Julia Haugeneder, die vor Kurzem ein neues Atelier im 15. Bezirk bezogen hat, zwar auch ums Material, aber auf ganz andere Weise. Ursprünglich hat die Wienerin Druckgrafik studiert und wurde durch eine Entdeckung zur Objektkünstlerin: Leim. Womit auch eine der ersten Fragen beantwortet wäre, die sich Betrachtende stellen, wenn sie ihre Objekte sehen: „Woraus besteht das?“ Anstatt mit dem Leim etwas Naheliegendes zu machen, wie etwas zu kleben, forderte Haugeneder die Norm in ihrer Verwendung des Klebemittels heraus: Sie schüttet den transparenten Leim, dem sie Pigmente hinzufügt, auf den Boden und beginnt ihn, wenn er fest genug ist, zu falten. Die zweidimensionale Grundfläche ist bis zu zehn Mal größer als die dreidimensionalen Objekte, die so entstehen und die Haugeneder „Faltungen“ nennt. Sie lassen je nach Ausstellungskontext verschiedenste Assoziationen zu: überdimensionale Mehlspeisen oder Sushi, „Freitag“-Taschen oder bunte Pakete. Stets aber sind sie geheimnisvoll und charmant. „Ich habe immer ,flach‘ gearbeitet. Mit so einer einfachen Geste dann etwas Räumliches zu machen“ und ihr Material quasi selbst herzustellen, faszinierte die Künstlerin. „Wir ordnen die Welt auf irgendeine Art. Der Akt des Ordnens ist im Falten ganz stark präsent.“ Aktuell assoziiert Haugeneder mit dem Begriff „Challenging Orders“ aber gar nicht so sehr ihre ungewöhnliche Materialwahl oder die subversive Art von Ordnung, die sie durchs Falten schafft. Die Challenge besteht für sie eher darin, die Praxis, für die man die Künstlerin kennt, zu erweitern. Für Haugeneder, die bereits in einigen Museen vertreten ist, sind ihre Faltungen quasi zur Norm geworden – nun stellt sie infrage, wie sie ihre Technik weiterentwickeln und ergänzen kann. Gerade hat sie begonnen, kleine Arbeiten aus Wachs herzustellen und anstatt mit einem synthetisch produzierten und billigen Material mit einem natürlichen, wertvollen zu arbeiten. Bei den Open Studio Days wird man ihr dabei über die Schulter schauen können.

ROLLEN PERFORMEN

Geschossen und bearbeitet am Handy: Christiane Peschek vor auf Fleece gedruckten Fotografien aus ihrer Serie „soft core“. Foto: Nikolaus Ostermann

Christiane Pescheks Material könnte nicht weiter von Plastik entfernt sein, aber auch bei ihren Arbeiten weiß man nicht gleich, womit – oder mit wem – man es zu tun hat. Bis zur Unkenntlichkeit weichgezeichnete Fotoporträts von Frauen (manchmal vielleicht auch Männern?) sind es wohl, manche cute und irgendwie fetischisierend, andere fratzenhaft und gruselig. Allein zu dieser Unschärfe, zur Ästhetik und zu den verwendeten Materialien wie Seide, auf die diese Bilder gedruckt werden, ließe sich einiges sagen. Aber der wichtigste Hinweis fehlt noch: Denn Christiane Pescheks Material ist sie selbst. All diese so unterschiedlich wirkenden Menschen auf den Fotos sind Peschek. Ähnlich wie Haugeneder, die eher durch Zufall auf den Leim gestoßen war, hatte Peschek ein Unfall – ihre Kamera fiel herunter – 2013 dazu gebracht, statt professionellen Fotografie-Equipments einfach ihr Handy zu verwenden. Dort fand sie sich in den Fotoordner selbst, oder besser: Bilder von sich. Inspiriert durch Apps, mit denen sich das eigene Aussehen mit wenigen Klicks optimieren lässt, begann Peschek, die ursprünglich aus der Werbung kommt, die Fotos mit den klassischen Photoshop-Tools zu bearbeiten, die man in der Retusche verwendet: Healing Brush, Stempel, Weichzeichner. Anstatt nur vermeintliche Verbesserungen vorzunehmen, verwendet sie diese Werkzeuge Hunderte Male, bis auratisch-verschwommene Gesichtshüllen übrigbleiben. Auch der Instagram-Algorithmus ist ob dieser undefinierbaren Weichheit ganz planlos. Als Porträts nimmt er sie nicht wahr, obwohl sie quasi die Essenz bestimmter Menschentypen und ihrer Inszenierung auf dieser Plattform in sich tragen. „Die Bearbeitung ermöglicht es, mir Identitäten oder Formen von mir selber anzueignen, die mein physischer Körper einfach nicht bieten kann. Ich orientiere mich sehr stark an Instagram-Trends und schaue mir an, welche Rollen dort performt werden, was für ein Bild vermittelt wird“, sagt Peschek, für die das Spiel mit der Identität im Zentrum der Arbeit steht. Sie thematisiert damit auch aktuelle Diskurse darum, welche Form von Aneignung in Ordnung ist. Wer darf man sein, zu wem darf man sich machen? Mit ihren Bildern bewegt sie sich auf einem schmalen, spannenden Grat zwischen Affirmation oder Faszination für bestimmte Rollenbilder und Kritik daran – damit fordert sie nicht nur die Ordnung im Sinne einer Grenze zwischen dem Ich und dem anderen heraus, sondern auch die Betrachtenden, denen nichts anderes übrigbleibt, als sich irgendwie zu dieser Kunst zu verhalten. Denn Wegschauen ist unmöglich.

Zur Autorin: Amira Ben Saoud ist Kulturredakteurin bei der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“.

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