Optimist des Willens

Milo Rau, vielfach ausgezeichneter Regisseur, ist neuer Impresario der renommierten Wiener Festwochen – die er gleich zur freien Republik ausruft. Der international ebenso hoch gelobte wie polarisierende Schweizer Aktivist, Autor, Dozent und ehemalige Intendant des Nationaltheaters Gent beleuchtet im Interview seine Sicht auf die Verflechtung von Kunst und Politik in seinen Werken und in der Gesellschaft.

Mozarts letzte Oper „La Clemenza di Tito“, mit der Milo Rau als Opernregisseur debütiert, schildert die Entstehung der bürgerlichen Kunst durch die Aneignung revolutionärer Ideale. Zugleich stellt das Stück die Frage, ob der gegenwärtige Diskurs über Toleranz, wie er von den Eliten geführt wird, nicht eher darauf abzielt, die Gleichheit in der Gesellschaft zu untergraben. Das berühmte Gemälde von Eugène Delacroix, „Die Freiheit führt das Volk“ von 1830, versetzt Rau durch ein Tableau vivant in die Gegenwart. Die Freiheit verkörpert nun ein junger schwarzer Migrant, der eine Müllfahne schwingt. Rau dazu: „,La Clemenza di Tito‘ ist eine Kritik an der Kunst. Die unheilvollen Geschichten, Aufstände, Mordtaten und Hinrichtungen werden in Performances und bildende Kunst verwandelt. Es ist die Kapitalisierung des Leids.”

Szenen aus „La Clemenza di Tito“: Die Titelfigur, der Künstler-Herrscher Tito, in seinem Palast, dem - historisch belasteten - Haus der Kunst München

In Raus Œuvre finden sich häufig Referenzen auf die bildende Kunst. „Eines meiner wichtigsten Werke ist ,Lam Gods‘, das vor einer Darstellung des Genter Altars spielt“, erzählt er. „Ich habe das Stück mit der Bürgergemeinschaft aus Gent nachgestellt, als ich dort 2018 Intendant wurde.“ Milo Rau fasziniert, wie sehr der Adam auf der Altartafel der realen Vorlage entspricht: Ein Nachbar der Brüder Van Eyck war mit sonnenverbrannten Armen von der Landarbeit in ihr Studio gekommen. Und auch der Adam auf ihrem Werk hat rote Arme und einen ansonsten weißen Körper. „Ich fand es so cool, dass das die Geburt der Ölmalerei, die Transzendierung des Banalen, des Alltäglichen darstellte. Das habe ich dann auch auf der Bühne gemacht.”

Das berühmte Revolutionsbild von Eugène Delacroix, „Die Freiheit führt das Volk“,1830, in „La Clemenza di Tito“ als Tableau vivant

Durch seine Praxis, das Theater als Raum für politische Diskurse und Widersprüche zu nutzen, ist Rau als Kritiker und Aktivist bekannt.
Er springt mit Leichtigkeit zwischen den Themen hin und her, spricht mit hoher Geschwindigkeit einmal über sein Treffen mit dem Papst, dem sein Film „Das neue Evangelium“ gefallen hat, dann über seine Praxis der Transzendierung des Alltäglichen auf der Bühne und auch über die Bedeutung der Proteste der Letzten Generation für Kunsträume. In seinen Arbeiten schafft Milo Rau eine neue Perspektive, die über die eurozentrische Sichtweise hinausreicht – auch im Versuch, gleichsam hierarchiefreie Räume zu schaffen. Er sieht sie als Gegenpol zu den neuen „heiligen Stätten“, als die Museen die Kirchen abgelöst haben.

Die weitreichende Wirkkraft von kunsthistorischen Bildern in ihren Räumen erkennt auch der Theatermacher. „Auf viele berühmte Bildkonstellationen kann man in ihrer Ikonografie rekurrieren. Und diese werden dann in Filmen wieder aufgenommen oder in Serien. Wenn man jetzt analysieren würde, wie stark die klassischen Meister die amerikanischen Serien in der Bildkomposition beeinflusst haben, würde das, denke ich, eine semiotisch gesehen unglaubliche Verwobenheit zeigen. Den Glauben haben wir verloren, aber die Bilder dazu nicht. Das ist der Grund, weshalb die eigentliche Sakralisierung dieser Bilder im Grunde im kollektiven Raum der Kunst stattfindet.“

Wie empfindet Rau, der als Journalist in Russland, aber auch in Afrika und Belgien arbeitete, die Kulturszene in Wien? „Wien hat noch stärker als andere Städte, die ich kenne, eine gewisse Geschichtstiefe. Es ist die Welthauptstadt der Moderne, und hier reagieren wir auf die ganze Tradition von Beethoven, Mozart und Barock. Gleichzeitig erlebe ich Wien, wenn wir mit den verschiedenen Akademien zusammenarbeiten, als hyperpostmodern, super im Jetzt, und das ist extrem radikal.”

Milo Rau

Wie ist die radikale Politisierung seines Theaters mit der Rolle als Intendant der Wiener Festwochen zu vereinbaren? Ist die politische Sprengkraft eines etablierten und sogar von der Elite angenommenen Theatermachers nicht gehemmt? Rau dazu: „Ich glaube sogar, man muss in Institutionen reingehen, weil diese die Kraft haben. Es braucht nur ein klein wenig Willen, und schon werden sie zu Generatoren des Wandels.“

Rau ist ein Optimist. In seinem jüngsten Buch „Rückeroberung der Zukunft“ beschreibt er Handlungsoptionen gegen die derzeitige Untergangsstimmung. Seit dem 1. Juli 2023 ist der gebürtige Schweizer Intendant der Wiener Festwochen, in denen es, so Rau, um Nachhaltigkeit und Transformation ohne moralisierende Anklagen gehen solle. Er zitiert Antonio Gramsci: „Ich bin ein Pessimist der Vernunft, aber ein Optimist des Willens. Das heißt, natürlich bin ich kein Vollidiot und sehe auch die Zeichen. Die Fakten sind keine fröhlichen. Aber man kann die kleinen Dinge verändern.”

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Wiener Festwochen

La Clemenza di Tito

21., 22., 24. und 25. Mai 2024

Milo Raus Operndebüt ist eine Neudeutung von Mozarts letzter Oper „La Clemenza di Tito“, in der die wohlmeinende Haltung des Herrschers auf eine bloße Strategie der Selbstbehauptung reduziert wird. Rau arbeitet mit 18 in Wien lebenden Personen zusammen, von denen einige aus erster Hand Erfahrungen mit repressiven Systemen gemacht haben, um das Werk zu modernisieren. Es stellt die Frage: Kann politische Kunst die Welt wirklich verändern oder festigt sie eher bestehende Machtstrukturen? Die Aufführungen in Wien werden vom Dorotheum unterstützt. Die Premiere fand im Februar 2021 im Grand Théâtre Genève statt.

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