Herzensbildung
Arrigo Lessana – gelassener Sammler, erfolgreicher Chirurg und berufener Schriftsteller. Joëlle Thomas, Repräsentantin des Dorotheum in Paris, traf den charismatischen Mann in seiner Pariser Wohnung zum Gespräch über Kunst und die Welt. Eine Begegnung mit einem „amateur de la vie“, wie er sich selbst bezeichnet. Er wird uns noch viel zu sagen haben.
Als Sohn italienischer Eltern, die sich in Paris niedergelassen hatten, träumte Arrigo Lessana davon, Boxer zu werden. Nachdem er aber mehr Schläge eingesteckt als ausgeteilt hatte, entdeckte er zuerst den Alpinismus und dann das menschliche Herz: Er wurde Herzchirurg, um sich mit Leib und Seele seinen Patienten hinzugeben. Sein erstes Buch beginnt freilich mit dem Bekenntnis: „So weit ich mich zurückerinnere, wollte ich diesen Beruf immer aufgeben. Ich war weder Herr der Tage noch der Nächte.“ Es ist Ausdruck eines flüchtigen Überdrusses, wie man ihn oft bei passionierten Menschen antrifft, die um keinen Preis der Welt „die Szene“ verlassen würden. Der Empfang, den ihm 2018 ehemalige chinesische Studenten – inzwischen selbst Professoren – bereiteten, zeigt, wie leidenschaftlich Lessana seinem Beruf nachgegangen ist und wie erfolgreich er als Forscher war: Er hat die chirurgischen Behandlungsmethoden bei Herzklappeninsuffizienz revolutioniert. Doch die beruflichen Erfolge sind inzwischen Vergangenheit. „Heute schreibe ich“, sagt er. Seine Texte lassen uns Arrigo Lessanas Gegenwart und Vergangenheit besser verstehen: Den Beruf als Mediziner hat er aufgegeben, dafür aber seinen Platz als Schriftsteller gefunden, in der Gewissheit, dass nun das Schreiben Teil seines Lebens ist.
Lessanas drei Romane – alle in der Editions Christian Bourgois erschienen – lesen sich ganz unterschiedlich, da sie verschiedene Phasen seines Lebens reflektieren. Das Erstlingswerk „L’Aiguille“ (Die Nadel) beschreibt seinen Werdegang als Arzt und Chirurg. „Les sens de l’orientation“ (Der Orientierungssinn) erzählt vom Pariser Intellektuellen, der gleichermaßen Liebhaber der Berge wie der Frauen ist, und „Nos conversations du mercredi“ (Unsere Mittwochsgespräche) handelt von den freien Nachmittagen, an denen der passionierte Großvater mit seinem Enkel Angelo übers Leben philosophiert.
Arrigo Lessanas Wohnung ist hell, hell auch das Sonnenlicht, das Feuer im Kamin, die Sofas in weißem Leinen, besonders aber die Bilder, die den Blick auf sich ziehen. Sie strahlen keine Wärme aus, fügen sich aber perfekt in den Raum und geben Auskunft vom Leben eines Sammlers, der gesteht, schon immer die Minimalisten geliebt zu haben.
Das erste von ihm erworbene Werk war eine Blechtafel von Raymond Hains. „Ich kann nicht sagen, wa rum ich es gekauft habe.“ Lessanas Sammlung wirkt nicht ritualisiert, vielmehr spiegelt sie ein Leben voller Begegnungen wider, die alles andere als unbedeutend waren. Eine tiefe Freundschaft verbindet ihn etwa mit Rebecca Horn – davon zeugt ein Schmetterling, der trotz seiner flatternden Flügel sein Umfeld nie wieder verlassen wird.
Lessana versteht zeitgenössische Kunst als „Pulsschlag und Spiegel der Gegenwart. Sie ist ein der Fantasie entspringendes Abbild ihrer Zeit, zugleich aber eine Wirklichkeit werdende Fantasie, da sie das Wesentliche einer Epoche hervorkehrt und über sie hinausweist.“ Um die Geschichten zu ergründen, die ihn mit seinen Werken verbinden, gilt es nachzubohren. So findet man etwa heraus, dass die Vase mit verblühter Blume von Meret Oppenheim stammt und ihr vertrauter Anblick dem einer alten Freundin gleicht, die man zu ignorieren vorgibt, die einem aber doch unentbehrlich ist.
Fotografien von Malick Sidibé, die Tänzer von der Elfenbeinküste zeigen, hängen neben einem Werk Jeanne Silverthornes mit einer leuchtenden Blume, die von Bienen bearbeitet wird („O Rose“). Zwei Ölbilder auf Karton von A. R. Penck, die Zeichnungen von Richard Tuttle und eine Skizze des „König Lear“ von Gilles Aillaud umrahmen, versuchen die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie alle erzielen aber nicht jene Wirkung, die des Sammlers zweifellos liebstes Werk hat: ein Foto von Richard Ballard, das Lessana selbst mit seinem Enkel Angelo zeigt. Von Ballard stammt auch ein riesiges, magisch anziehendes Bild eines Baums, der sich wie eine Tür zum sagenumwobenen Wald Brocéliande öffnet und ein Wiedersehen mit den Feen Viviane und Morgane verheißt. Über dem Schreibtisch hängt ein Foto von Gordon Matta-Clark, das Arrigo Lessana in den Blick nimmt, ehe er sich wieder dem Schreiben zuwendet – sein vierter Roman ist gerade im Entstehen.
Coverbild: „O Rose“ von Jeanne Silverthorme / Fotografien von Malick Sidibé