Eva Reisinger: Ein Zweites Leben

Was haben Kunst und Clubbing gemeinsam? Sie öffnen Türen in eine Welt jenseits des farblosen Alltags. Für die Literaturserie des Dorotheum myART MAGAZINE lässt sich Autorin Eva Reisinger von der geballten Kraft von Martha Jungwirths unbetiteltem Kunstwerk inspirieren und macht in ihrer Kurzgeschichte die Nacht zum Tag.

© Jaqueline Scheiber

Es ist 2 Uhr 15 und die Nacht fängt gerade erst an. E könnte ins Bett gehen. Das wäre eine kluge Entscheidung. Eine erwachsene – würden manche Menschen behaupten. E ist 35 und damit ohnehin viel zu oft viel zu erwachsen. Sie taut ihren Kühlschrank ab, obwohl sich die Tür noch schließen lässt. Wenn die braunen Flügel von Motten durch ihre Küche tanzen, sucht sie nach dem Nest, bis sie es gefunden hat. Sie wäscht nicht mehr all ihre Kleidung zusammen, sondern trennt zwischen Hell und Dunkel und manchmal sogar nach Temperatur. Sie hat einen Mann, einen Hund, ein Kind und viel zu wenig Zeit für sich selbst. Bei jeder Zigarette denkt sie, es müsse heute aber wirklich die Letzte sein. Als die Nachbar*innen noch eine Flasche Rosé Prosecco geöffnet haben, ermahnte sie sich: Nur noch ein Glas. Dass sie sich ständig selbst züchtige, sei wahnsinnig katholisch, sagt J jedes Mal, wenn E verkündet, dass sie nach diesem Getränk nach Hause müsse. So katholisch ist sie eigentlich gar nicht. Also sicher katholischer als J. Denn die ist evangelisch. Manchmal treibt E die Sorge um, obwohl sie mittlerweile aus der Kirche ausgetreten ist, die Hände beim Betreten einer Kirche fest in den Taschen vergräbt und so dem Automatismus widersteht, in das Weihwasser zu tauchen und ein Kreuz in die Luft zu ziehen, dass ausgerechnet die Schuldgefühle geblieben sind. Die kann sie in ihrem Leben nicht brauchen. Sie denkt ohnehin viel zu viel über alles nach.

E zieht den Chatverlauf nochmals nach oben, um zu sehen, ob sich der Haken endlich blau färbt. Ihre Fingerspitzen kribbeln, ihr Magen ist flau. Sie ist sich nicht sicher, ob es Übelkeit oder Vorfreude ist. Sie will ein Taxi rufen. Sie will sich zurücklehnen. Sie will die Nacht noch mal neu beginnen und jemand anders sein. Vor Stunden hat J geschrieben, dass sie heute Nacht unbedingt noch ausgehen wolle. Ja, ja, ja, dachte E. Ausgehen klingt gut. Aber Schlaf

nachholen, das wäre auch was. Um Mitternacht fragte J:
– wie ist die Lage?
– Ich trinke noch ein Glas bei den Nachbarn
– dann?
– Tanzen wäre schön!

Wäre es nicht J, würde sie ins Bett gehen. Sie wüsste, dass ihr Gegenüber nirgends mehr hinkommen würde. Kein blauer Haken, keine Antwort. Wer sich um diese Zeit nicht sofort meldet, mit dem darf man nicht rechnen. Wer in der Nacht zögert, verliert. Wäre es nicht J, würde E schlafen gehen, und morgen würde man sich gegenseitig versichern, dass es sich einfach nicht mehr ausgegangen sei. So schade. Das nächste Mal aber! Im Hintergrund der lahmen Nachrichten würde das Wissen schimmern, dass es dazu nicht kommen wird. Zumindest nicht in dieser Lebensphase. Alle haben einen Hund, Kinder oder beides. Alle machen Sport. Niemand geht mehr nachts spontan aus. Die Nacht hat seit Jahren keine Chance mehr. Nachts wollen alle nur schlafen. Der Superstar ist nun der Morgen. Alle stehen plötzlich früh auf. Auch E hat die Nacht längst aufgegeben und kämpft nicht mehr gegen die vollen Terminkalender und die gesunden Lebensstile, die plötzlich alle pflegen.

J sagt, es könnte immer die letzte Nacht sein. Und wenn sie das sagt, ist es nicht pathetisch. Wenn sie das sagt, glaubt E es. Weil es immer sein kann, dass es wirklich das letzte Mal ist. Wenn J das sagt, dann stimmt es. Sie muss es wissen. E nimmt noch einen Schluck vom eisgekühlten Prosecco und zündet sich noch eine letzte Zigarette an. Die Glut leuchtet in der Nacht wie ein Glühwürmchen, als E tief inhaliert. Eines ist doch fein am Älterwerden, denkt E: Immerhin hat der Wein nicht mehr Körpertemperatur. Niemand traut sich mehr, mit einer warmen Flasche Sonnleiten oder Storch vor der Tür zu stehen. E schlägt die Füße übereinander, auch wenn sie weiß, dass sie Rückenschmerzen bekommen wird. Still zu sitzen fällt ihr immer schwerer. Sie will keinen Rosé Prosecco mehr trinken. Sie will tanzen, sie will ihren Kopf ausschalten. Sie will nicht an das Kind in der Wohnung gegenüber denken. Sie will nicht dauernd hören, wie es atmet, und nicht fühlen, wie es nach ihr greift. Sie will den süßlichen Schweiß nicht riechen und keine weichen Kinderhände im Gesicht spüren. Sie will für ein paar Stunden jemand anders sein. Jemand, den sie gut kennt. Jemand, der sie selbst noch vor einigen Jahren war.

Martha Jungwirth Ohne Titel, 2015 Öl auf Papier auf Leinwand 143 x 200 cm, Weltrekordpreis € 520.000
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Ping. Endlich. E dämpft die Zigarette aus und blickt mit einem Grinsen auf ihren Sperrbildschirm. Nochmal ping. Ihre Nachbar*innen sehen sie verwundert an, als E aufsteht und beginnt, sich zu verabschieden. Sie müsse schlafen gehen, es sei wirklich spät geworden. Alle nicken. Während sie Hände schüttelt und Menschen umarmt, denkt sie an den Punkt auf der Karte, der sich auf ihrem Telefon gerade Richtung Club bewegt. J hat mit ihrem Standort geantwortet. Es ist die Antwort gewesen, die E sich
erhofft hat. Man braucht zumindest ein paar Menschen im Leben, die kommen. Keine Ausreden, keine logischen Entscheidungen. Sie kommen.

Als E im Lift steht, hört sie die ersten Töne ihres Lieblingssongs. Die 1980er-Jahre spielen sich in ihr Ohr. E hört so etwas eigentlich nicht. Sie mag Pop und Klassik und doch sicher keine Schlager.

Als das Lied zum ersten Mal im Club lief, sah sie J ungläubig an.
J hört Indie. Indie und gute Musik. Im Taxi legt E ihre Hände fest auf die Beine, um sie zur Ruhe zu ermahnen. Mittlerweile kribbelt ihr gesamter Körper. Vor dem Club angekommen, blickt sie sich um. Was, wenn sie jetzt mitten in der Nacht hier allein gestrandet ist? Nein, allein würde sie nicht reingehen. Allein würde sie sich zwischen den Studienanfänger*innen und Eramus-Menschen schämen.

Als J von der anderen Straßenseite auf sie zugerannt kommt, vergisst sie ihre Zweifel. Als ihre Freundin sie hochhebt, weiß sie, dass sie beide für ein paar Stunden jemand anders sein dürfen. Ohne all den Ballast, der an ihren Leben hängt. Sie werden vergessen, dass
in den vergangenen Wochen rund um sie Menschen sterben, dass sie krank werden, versuchen, sich das Leben zu nehmen, oder nur noch in der Erinnerung da sind. Sie werden wieder Anfang 20 sein. Sie werden über Männer lachen. Sie werden ihnen zuschauen, wie sie in Flipflops und Hawaiihemd selbstbewusst auf der Bühne tanzen, sie werden ihnen zuhören, wenn sie ihre Freunde anpreisen, und dann werden sie wieder lachen. Darüber, dass das die Auswahl sein soll. Darüber, dass diese denken, heute Nacht ernsthaft einen Platz in ihrer Flucht zu bekommen. Und irgendwann wird der Moment kommen, in dem E einfriert. J wird sie zuerst besorgt, dann amüsiert anschauen. Sie wird realisieren, dass nun endlich ihr Song läuft. Sie werden dazu durch den Club schweben und sich entgegenschreien: Ohne dich schlaf ich heut Nacht nicht ein…

©️ Jaqueline Scheiber

EVA REISINGER

(geb. 1992) zählt zu den Nachwuchstalenten der österreichischen Literaturszene. Die studierte Journalistin arbeitete in Medienhäusern in Hamburg, Berlin und Istanbul und baute ab 2017 einen Österreich-Schwerpunkt in „ze.tt“, dem jungen Medium der „Zeit“, auf. 2021 erschien ihr erstes Buch „Was geht, Österreich?“. Ihr Roman „Männer töten“ von 2023 erzählt von einem geheimen Matriarchat in Oberösterreich. Das Prosawerk voll popkultureller Poesie wurde für den österreichischen Debütpreis nominiert und als eines der grafisch schönsten Bücher 2023 ausgezeichnet.

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