Martha Jungwirth: Ratio und Emotion

Ob Antike oder Alte Meister, Napoleons Gaul oder Neymar als gefallener Krieger: Sie alle und vieles mehr erfasst Martha Jungwirths Malerei seismografisch, wie sie sagt. Und doch dienen sie ihr alle schlussendlich nur als „Vorwand“. Ein Atelierbesuch bei einer der bedeutendsten Gegenwartskünstlerinnen. 

 

Hans-Peter Wipplinger: Sehr geehrte Frau Jungwirth, liebe Martha, du warst jüngst mit einer Solopräsentation auf der Arco Madrid vertreten. Was war dort von dir zu sehen?

Künstlerin und Kurator: Martha Jungwirth und Hans-Peter Wipplinger Foto: Kunsthalle Krems
Künstlerin und Kurator: Martha Jungwirth
und Hans-Peter Wipplinger Foto: Kunsthalle Krems

Martha Jungwirth: Einige Arbeiten aus der Serie „Vladimir Nabokov: Erinnerung, sprich“, zu denen mich eine Reise nach St. Petersburg 2017 inspiriert hat. Dann Auszüge aus meinem „Corona-Tagebuch“ – kleine, bemalte Kartons, die einmal als Rückwände von Bilderrahmen gedient und eine gewisse Schäbigkeit haben. Auf denen habe ich mich durch die Pandemie gearbeitet, meine täglichen Notationen zu diesem ganzen Irrsinn festgehalten. Und dann meine drei „Majas“, das hat mich ganz besonders gefreut! Gern wäre ich nach Madrid gereist, um sie dort zu sehen und um Goyas Gemälde im Prado zu besuchen, wo sie nach der Ausstellung in der Fondation Beyeler bei Basel neu gehängt wurden, zusammen mit Titians Venus – das muss fantastisch sein!

Goya ist nicht der erste „alte Meister“, der dich zu einer Werkserie inspirierte.

Nein (lacht). Frans Hals ist auch so einer, diese herrlichen Gestalten in seinem Bild „Regentinnen des Altmännerwohnheims“! Oder Cranachs „Judith mit dem Haupt des Holofernes“, das im Kunsthistorischen Museum in Wien hängt. Mich interessiert, wie Künstler vor langer Zeit die Welt gesehen haben, was sie beschäftigt hat, wie sie sich der Malerei genähert haben. Das inspiriert mich. Hast du die Ausstellung Chaïm Soutine und Willem de Kooning im Musée de l’Orangerie gesehen? Ich war vor Weihnachten in Paris – das hat mir sehr gut gefallen. Der abstrakte Expressionismus in Amerika war für uns in den 1950er-Jahren ja ungeheuer wichtig. Dabei hatten wir in Österreich am Beginn des 20. Jahrhunderts Richard Gerstl: Zur damaligen Zeit eine Malerei von solcher Radikalität und Modernität, das ist wirklich fantastisch! Als Gerstl starb, steckte Kooning noch in seinen Kinderschuhen!

Ja, Gerstl hat Künstler bis hinein in die Gegenwart inspiriert: von Günter Brus bis Arnulf Rainer, von Georg Baselitz bis Paul McCarthy. Sechs deiner wunderbaren Interpretationen von Gerstls Bildnissen der Schwestern Fey hingen in unserer Ausstellung „Richard Gerstl“ 2019 im Leopold Museum neben seinen Werken. Aber auch Bezüge zum tagesaktuellen Geschehen finden sich immer wieder in deinen Arbeiten. Ich denke hier etwa an die Serie „Istanbul“ von 2017, die an die Niederschlagung des Putschversuches in der Türkei erinnert.

Martha Jungwirth, Ohne Titel (Neymar), 2021, Öl auf Papier auf Leinwand, 240,5 x 288,6 cm Courtesy Galerie Thaddaeus Ropac London · Paris · Salzburg · Seoul, © Martha Jungwirth / Bildrecht, Wien 2022, Foto: Ulrich Ghezzi
Martha Jungwirth, Ohne Titel (Neymar), 2021, Öl auf Papier auf Leinwand, 240,5 x 288,6 cm
Courtesy Galerie Thaddaeus Ropac London · Paris · Salzburg · Seoul,
© Martha Jungwirth / Bildrecht, Wien 2022, Foto: Ulrich Ghezzi

Du bist ja eine begeisterte Leserin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, wie man nicht zuletzt an den immer wieder neuen Zeitungsausschnitten sieht, die du an deine Atelierwand pinnst. Ist das hier nicht der Bayern-Keeper Manuel Neuer, wie er sich mit weiter Hand- und Fußbewegung einem anstürmenden Torjäger entgegenstellt?

Ja, und darunter habe ich mir den Wettlauf von Hippomenes und Atalanta aufgehängt, dargestellt von Guido Reni. Eine andere Szenerie, aber mich interessierte die Ähnlichkeit im Ausdruck, die Dynamik der Gesten, auch wenn der dargebotene Wettkampf einem ganz anderen Ziel gilt: Der eine will den Pokal, der andere die Braut. Hier ist noch ein Fußballer (liest die Bildunterschrift) – Neymar heißt der.

… der Stürmer der brasilianischen Nationalelf, der bei Paris Saint-Germain spielt.

Aha. Mich hat er sofort an den „Gefallenen Krieger“ aus dem Giebel des griechischen Aphaiatempels erinnert. Hier ist er abgebildet (holt ein „DU“-Kulturmagazin aus den 1950er-Jahren hervor), eine fantastische Schwarz-Weiß-Fotografie, und auch die Grafik von diesen alten Heften ist wunderbar.

Mir kommt bei dieser Analogie die sogenannte Pathosformel von Aby Warburg in den Sinn, der das Gedächtnis als „Leidschatz der Menschheit“ betrachtete. Die pathetische Mimik, der gesteigerte Ausdruck der Gebärdensprache: Warburg untersuchte, wie ein bestimmter Formenschatz von der Antike über die Renaissance bis in die Moderne übernommen wurde. Was ist das da unterhalb des gefallenen Fußballers Neymar?

Das ist der Sarkophag Napoleons, hier sieht man ihn (verweist auf einen weiteren Zeitungsausschnitt). Darüber hängt das Skelett seines Pferdes namens Marengo, nicht das echte, sondern eine Nachbildung des Künstlers Pascal Convert zum 200. Todestag Napoleons. Bis zum Wagram ist der Gaul mit Napoleon auf dem Rücken geritten, sogar bis Waterloo, wo er in Gefangenschaft geriet und den Engländern als Deckhengst diente.

Martha Jungwirth, Marengo, 2021, Öl auf Papier auf Leinwand, 248 x 297 cm © Martha Jungwirth / Bildrecht, Wien 2022, Foto: Lisa Rastl
Martha Jungwirth, Marengo, 2021, Öl auf Papier auf Leinwand, 248 x 297 cm
© Martha Jungwirth / Bildrecht, Wien 2022, Foto: Lisa Rastl

Eine tolle Geschichte! Hast du Marengo nicht auch „porträtiert“? Ich glaube mich zu erinnern, dass im Rahmen deiner ersten Ausstellung bei Thaddaeus Ropac im Spätsommer letzten Jahres ein gleichnamiges Bild zu sehen war.

Ja, das ist richtig. Eine ganze Menagerie habe ich dort in Paris aufmarschieren lassen: einen Hund, einen Affen, eine Kröte …

… und „La Grande Armée“, das über sieben Meter lange Hauptwerk, sehr beeindruckend. Es zeigt drei Tiere, die in einer Reihe stoisch von links nach rechts über die Leinwand schreiten. Silhouetten, sehr reduziert und dabei sehr kraftvoll, mit expressivem, ausladendem Pinselstrich gemalt.

Es sind Tiergestalten ähnlich jenen, die man im Grab Tutanchamuns gefunden hat. Siehst du, hier, auf einem Foto von Harry Burton, das er direkt nach der Öffnung des Grabes gemacht hat, sieht man sie: inmitten all der Hocker, Truhen und Räder von Streitwagen diese königlichen Tiere. Es sind Totenbetten in Tiergestalt, herrliche Artefakte!

Daneben waren in Paris auch „Schlachtenbilder“ zu sehen, wenn ich die dort präsentierten Triptychen einmal so nennen darf, und eine Serie von kleineren Arbeiten, die du mit „Metope“ betitelt hast – ein Begriff, den man eher aus der Architekturgeschichte kennt. Wie hängen die beiden Werkgruppen zusammen?

Sie sind parallel entstanden, in einer Zeit, in der ich mich sehr mit Homers „Ilias“ beschäftigt habe. Du weißt, Griechenland hat es mir sehr angetan, nicht nur seine Landschaften und die Menschen, sondern vor allem auch die griechische Mythologie. Mir ist ein Buch von Alice Oswald in die Hände gefallen, „46 Minuten im Leben der Dämmerung“, darin das Gedicht „Memorial. Eine Ausgrabung aus der Ilias“, das mich bewegt hat. Es lässt die Krieger zu Wort kommen, die Opfer der Schlachten, die Sterbenden. So gesehen sind die beiden Triptychen, die ich „Memorial“ genannt habe, tatsächlich Schlachtenbilder. Die „Metopen“ – ursprünglich figürliche Schmuckfelder am griechischen Tempelfries – bezeichne ich auch als Cartoons: Sie sind kleine Erzählungen als Teil des großen Ganzen, Felder, auf denen sich malerische Energie entlädt, wenn man an der großen Fläche mal nicht weiterweiß – auch ich habe Schlachten auszutragen und ringe hin und wieder mit mir selbst (lacht).

Martha Jungwirth, Ohne Titel, aus der Serie „Kambodscha“, 2005, Aquarell auf Papier, 137 x 101 cm, verkauft im Dorotheum
Martha Jungwirth, Ohne Titel, aus der Serie „Kambodscha“, 2005, Aquarell auf Papier,
137 x 101 cm, verkauft im Dorotheum

Du hast die Landschaft Griechenlands erwähnt. Neben den Kykladen, deren Naturstimmungen du vielfach in Aquarellen festgehalten hast, waren auch Istrien, der Jemen, Kambodscha oder Bali Ziele deiner Reisen. Und überall hast du gemalt?

Am Anfang ja, da habe ich vor dem Motiv gemalt und bin mir dabei vorgekommen wie Cézanne (lacht). In Rom zum Beispiel bin ich auf einem Stockerl vor Santa Maria della Pace gesessen, meinen Aquarellkasten und eine Flasche Wasser neben mir, und habe die barocke Fassade gemalt. Das war in den 1970er-Jahren,
lange her. Heute male ich nur noch aus der Erinnerung. Erst recht in diesen Zeiten, in denen man nicht mehr unbeschwert reisen kann. Da sind es dann oft die naheliegenden Dinge, die einem Impulse geben – ein Strauß verwelkter Blumen, der Garderobenständer oder hier, mein Maltischchen. Auch die Regale aus gelben Holzplatten, in denen meine Bilder lagern, wurden bildwürdig – „Corona-Gefängnis“ habe ich die Arbeit genannt.

Diese Dinge sind auf deinen Gemälden allerdings nicht mehr als solche zu erkennen.

Nein, die Dinge dienen mir lediglich als „Vorwand“. Etwas an ihnen gibt mir einen Impuls, reizt mich formal oder farblich, springt mich visuell an. Aber erst, wenn das konkrete Motiv durch meine Emotion hindurchgegangen ist, durch mein Empfinden, wenn das, was es in mir auslöst, mich bewegt – auch körperlich –, dann wird ein Bild daraus.

Du hast einmal gesagt, deine Kunst sei „seismografisch“.

Ja, die innere Bewegung und die äußere Bewegung, das Zusammenspiel dieser Dynamiken, gibt den Ausschlag.

Woran arbeitest du gegenwärtig?

Ich male gerade an Werken, die ich heuer noch in einer Personale in der Londoner Galerie Ropac sowie im Herbst in einer groß angelegten retrospektiven Schau in der Kunsthalle Düsseldorf zeigen werde. Ich hoffe, mir wird da noch einiges gelingen … Der Zufall und die Spontaneität sind ja ständige Begleiter bei der Arbeit und definieren neben der Ratio das malerische Ergebnis wesentlich mit; insofern geht es immer auch um Experimentelles, um das Vorwagen in neue Gefilde.

Ich danke dir für das Gespräch und wünsche alles Gute für deine nächsten Vorhaben!

Das Gespräch führte Hans-Peter Wipplinger, Direktor des Leopold Museum Wien. Bis 2015 leitete er die Kunsthalle Krems, wo er 2014 die Ausstellung „Martha Jungwirth. Retrospektive“ kuratiert hat. 

Martha Jungwirth

Foto: Kunstmuseum Ravensburg
Foto: Kunstmuseum Ravensburg

1940 in Wien geboren, nimmt sie mit ihren poetisch-abstrakten Aquarellen und Ölbildern in der zeitgenössischen österreichischen Malerei eine singuläre Position ein. Nach dem Studium an der Hochschule für angewandte Kunst (und drei Auszeichnungen, darunter der Msgr. Otto Mauer Preis) nahm Jungwirth 1968 an der von Otto Breicha kuratierten legendären Ausstellung in der Wiener Secession teil, als Teil der Gruppe „Wirklichkeiten“, die bis 1972 bestehen sollte. Nach der Teilnahme an der documenta 6, 1977, verschwand die Künstlerin etwas aus dem öffentlichen Fokus. 2010 wählte Maler-Kurator Albert Oehlen Jundwirths Arbeiten für eine Gruppenausstellung im Essl Museum. 2014 widmete ihr die Kunsthalle Krems eine fünf Dekaden umspannende Personale. 2018 folgten Einzelausstellungen unter anderem in der Albertina, Wien, sowie im Kunstmuseum Ravensburg. Im selben Jahr erhielt Jungwirth den Oskar-Kokoschka-Preis, 2021 den Großen Österreichischen Staatspreis. Im heurigen Jahr folgt eine Personale in der Kunsthalle Düsseldorf.

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