Der Pop-Art-Säulenheilige Andy Warhol bewunderte zeitlebens Man Ray. 1973 kam es in Paris zu einem Treffen mit dem legendären Dadaisten und Surrealisten. Dabei entstandene Polaroids bildeten die Grundlage für eine vom Turiner Kunsthändler Luciano Anselmino beauftragte bedeutende Porträtserie Warhols. Ein famoses Exemplar daraus kommt direkt aus Privatbesitz im Dorotheum zur Auktion.
Bei Andy Warhol gibt es immer mindestens zwei Erzählweisen. Was Man Ray betrifft, den der Künstler in dessen Pariser Wohnung am 30. November 1973 fotografierte, lautet die offizielle kunstgeschichtliche Erklärung so: Das Werk des einflussreichen US-amerikanischen Fotografen und Experimentalfilmers habe viele Prinzipien von Andy Warhols Kunst und der Pop Art im Allgemeinen vorweggenommen – etwa jenes der ständigen Wiederholung und der Reproduktion von Motiven. Bei Warhol waren es Suppendosen, Marilyns, Maos oder auch elektrischen Stühle. An der Kunsthochschule in seiner Heimatstadt Pittsburgh hatte er auch mit schattenähnlichen, „Rayografien“ genannten Fotogrammen experimentiert. Und arme Immigrantenkinder waren sie beide gewesen.
Ganz anders Andy Warhols Version, zumindest wenn man von seiner Schilderung des damaligen Treffens ausgeht. In einem im Band „I’ll Be Your Mirror“ verewigten Interview relativiert er alles in typisch knochentrockener und sphinxhafter Weise: Vom Besuch sei ihm eigentlich nur der Toilettensitz in Man Rays Wohnung in Erinnerung geblieben, sagt da Warhol, denn der sei mit Stoff bezogen gewesen. Und den Fotografen verehre er allein wegen seines wunderbaren Namens, Man Ray. Tatsache ist freilich, dass Man Ray, seit ihn Warhol getroffen hatte, neben Salvador Dalí einer seiner absoluten Darlings war und er auch frühe Arbeiten von ihm besaß.
Was zählt und bleibt hinter den Geschichten, sind die Gemälde, die nach dem Besuch beim damals 83-jährigen Man Ray entstanden. Eines davon – ein für Warhol charakteristisches, auf Fotografie basierendes und mit Acrylfarbe wie Siebdrucktinte erstelltes Porträt – leuchtet buchstäblich aus dem Angebot der kommenden Dorotheum-
Auktion Zeitgenössische Kunst heraus. „Man Ray“ (1974) – die Nummer 2635 im Warhol-Werkskatalog, ist bislang in Ausstellungen aufgetaucht, nicht aber auf dem Kunstmarkt: Die im Œuvre Warhols wohl besonders herausragende Arbeit stand immer in Privatbesitz.
Wie kam es aber nun tatsächlich zu dem Treffen der Dadaismus-Surrealismus- und Pop-Art-Legenden? Arrangiert wurde es vom jungen Turiner Kunsthändler Luciano Anselmino, um Warhol mit einer Bilderserie zu Man Ray – Leinwänden und Drucken – zu beauftragen. Anselmino, der laut Factory-Intimus und „Interview“-Magazin-Herausgeber Bob Colacello „Anselmino of Torino“ genannt wurde, „weil er mehr wie ein Friseur als wie ein Galerist aussah“, war 1969 erstmals auf Man Ray getroffen, vermutlich auf Vermittlung des Galeristen Alexandre Iolas. Dieser hatte die allererste Ausstellung von Warhol in New York 1952 ausgerichtet – und übrigens auch seine allerletzte, 1987 in Mailand. Luciano Anselmino wiederum hatte dem ab den 1950er-Jahren allmählich wiederentdeckten Künstler Man Ray in den frühen 1970ern besonders in Italien zu größerer Popularität verholfen. Warhols Turiner Galerist bestellte also unter anderem sechs Leinwände, die auf Fotografien der Session beruhen, wovon das im Juni angebotene Bild die Nummer zwei ist. Zusätzlich entstanden weitere kleinformatige Serien des Man-Ray-Motives und eine auf 100 Stück limitierte Druckedition. Sie sollte mit einem Text von Henry Miller und einer Illustration von Jasper Johns versehen werden, was schlussendlich aber nicht zustande kam.
Warhols Bilderserie entstand zu einer Zeit, als er, ganz „Business-Künstler“, Alten Meistern ähnlich rund um den Globus zig Auftragsporträts für prominente und zahlungskräftige Klientel, the rich and the famous, ausführte. Die Serie von Man Ray fällt nicht darunter. Diese Bilder gehören einer Reihe von Porträts von Personen an, die er bewunderte und verehrte, vornehmlich anderer Künstler. Das zeigt sich auch daran, dass Warhol drei seiner „Man Rays“ für sich behielt.
Warhol ließ bei der Session 1973 seinen Dada-Gott mit Zigarre posieren, ohne Brille und mit Seemannskäppi. Das Bild weist für Warhols Verhältnisse starke individuelle Züge in der farblichen Bearbeitung auf – ein Umstand, der mit großer emotionaler Tiefe interpretiert wurde. Denn auch Bildnisse seiner Mutter, zu der er zeitlebens eine starke Verbindung hatte, lassen dies erkennen … und das bei einem Mann, dessen Ideal es war, eine Maschine zu sein. Hier zeigt sich die Ambiguität des Pop-Art-Chamäleons, das immer wieder aufs Neue fasziniert.
In „Letter to Man Ray“, einem irrwitzigen, anlässlich dessen Todes 1976 aufgenommenen 20-minütigen Video-Monolog, schilderte Warhol einer Performance gleich die Foto-Session mit dem Meister in Paris. Er spricht repetitiv, gleichsam nach dem Prinzip seiner Bilder. Darin heißt es unter anderem: „I took another picture of Man Ray, another Polaroid portrait of Man Ray and another Polaroid portrait of Man Ray, another Polaroid portrait of Man Ray and then another Polaroid portrait of Man Ray and then I took another Polaroid portrait of Man Ray and then I took another Polaroid portrait of Man Ray. And then I took another portrait. And then I think he took another portrait of me and then he signed that one for me and I put it in my Brownie shopping bag.“
Man Ray hatte beim Foto-Sitting damals angeblich keine Ahnung von der Berühmtheit eines gewissen Andy Warhol. Ein mitgeschnittenes Tape dokumentiert, dass Man Ray offenbar fachsimpeln wollte und Warhol fragte, ob er denn die Big-Shot-Kamera möge und welche Brennweite er verwende. Warhol meinte nur lapidar, es sei die billigste Kamera und seine liebste.
Information: Alessandro Rizzi und Petra Schäpers,
Expert:innen für Moderne und Zeitgenössische Kunst
AUKTION
Zeitgenössische Kunst I , 1. Juni 2022, 17 Uhr
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