Zwischen Weltraumeuphorie und sakraler Transzendenz: Lucio Fontanas „Concetto Spaziale“ von 1966 zählt zu den Höhepunkten der Dorotheum-Frühjahrsauktion.
Das Schaffen Lucio Fontanas fällt in Jahre großer Herausforderungen und ideologischer Gegensätze, aber auch grundlegender technologischer Entdeckungen und Innovationen: Der Zweite Weltkrieg ist gerade zu Ende gegangen, der „Kalte Krieg“ und mit ihm die atomare Bedrohung stehen unmittelbar bevor. In diesem Kontext einer Welt in Asche, die – im Vertrauen auf Fortschritt und Technik – wiederaufgebaut werden muss, kreiert Lucio Fontana das künstlerische Konzept des Spatialismus. Von Anfang an steht die Idee im Zentrum, den Raum in einer neuen Weise zu begreifen. Ziel ist es, die künstlerische Sprache zu erneuern, um sie an die wissenschaftlichen Errungenschaften und den Fortschritt anzupassen: Die Kunst soll sich nicht mehr den Beschränkungen von Leinwand und Materie unterwerfen, sondern Grenzen überschreiten, um sich dem Unbekannten zu öffnen.
Ab 1949 beginnt Fontana mit der Serie der Raumkonzepte, der „Concetti Spaziali“. Diese Werke zeichnen sich durch das Vorhandensein von kleinen Löchern, Hohlräumen, manchmal auch Schlitzen und größeren Rissen aus, die mit dem berühmten „punzón“ in das Material eingebracht werden und die Ebene des traditionellen Bildes radikal stören. Eine scheinbar ikonoklastische Geste, die aber in Wirklichkeit immer durch eine langwierige, niemals zufällige, vielmehr wohl durchdachte Bewegung entsteht. Man könnte sie als fast spirituell, reflektiert bezeichnen – eine Geste, die nichts mit dem Modus Operandi und der Vehemenz jener zeitgenössischen, dem abstrakten Expressionismus oder bestimmten Strömungen der informellen Kunst nahestehenden Bewegungen zu tun hat.
Eine einfache Aktion, die jedoch eine jahrhundertealte Tradition zu durchbrechen vermag, in der sich der Bildträger nicht aus seiner zweidimensionalen Flächigkeit lösen konnte. Fontana schafft, indem er die Oberfläche der Leinwand perforiert, eine dynamische Interaktion zwischen dem Kunstwerk und dem Betrachter, vor allem aber zwischen dem Kunstwerk und seiner Umgebung. Die Entstehung der Arbeiten fällt in die Jahre der späten künstlerischen Reife des italienisch-argentinischen Malers, vor allem aber in die Jahre des „Weltraumwettlaufs“ zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Das hier präsentierte „Concetto Spaziale“ entsteht fünf Jahre nach dem ersten Weltraumabenteuer des sowjetischen Kosmonauten Jurij Gagarin und nur drei Jahre vor der Mondlandung, zu einem absolut einzigartigen Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit. In der Arbeit zeigt sich die Begeisterung des Künstlers für den neu eingeschlagenen Weg, den Durchbruch in die Unendlichkeit des Alls. In der Farbgebung des Werks setzt Lucio Fontana ein weiteres charakteristisches Element seiner Arbeit ein: Dukatengold. Ein Farbton, der in zahlreichen Kulturen seit jeher mit Heiligkeit, Unbestechlichkeit und Unsterblichkeit assoziiert wird, ein Symbol des göttlichen Lichts und der Transzendenz. Während sich die Leinwand dem Betrachter einerseits als weltliches Altarbild präsentiert, scheinen andererseits die rhythmisch angeordneten Löcher einem fast mathematischen Muster zu folgen, das sich harmonisch zur Mitte hin ausdehnt und vergrößert. So, als wolle uns Fontanas „Concetto Spaziale“ in eine neue jenseitige Dimension und eine unerforschte Zukunft führen.
Alessandro Rizzi ist Experte für Moderne und Zeitgenössische Kunst im Dorotheum. Adriano Blarasin arbeitet dort als Kunsthistoriker.
AUKTION
Zeitgenössische Kunst, 24. Mai 2023, 18 Uhr
Palais Dorotheum, Dorotheergasse 17, 1010 Wien
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