„KUNST IST IMMERWÄHREND!“
Egon Schiele wird heute weltweit geschätzt. Er gilt als einer der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Einen Glücksfall stellt die Entdeckung eines bislang unbekannten Manifests dar, das der junge Schiele im Alter von 21 Jahren verfasste und das am 26. November 2019 zur Auktion kommt. So kurz wie bündig, so selbstbewusst wie kompromisslos spricht daraus das künstlerische Selbstverständnis des genialen Künstlers.
von TOBIAS G. NATTER
Egon Schiele, der zu den bedeutendsten Künstlern der internationalen Moderne zählt, war stolz auf seine Leistungen als Maler. Er verstand sich aber auch als Sprachkünstler. Sein diesbezügliches Talent kommt in zahlreichen Texten zum Ausdruck. Längst liefern sie die Basis für einen „nicht mehr wegzudenkenden Aspekt der Schiele-Forschung“, so die Vizedirektorin des Wien Museum in ihrem Beitrag zu Text und Sprache bei Egon Schiele. Der Wissenschaft unbekannte Schiele-Dokumente tauchen heute aber kaum mehr auf. Umso spannender ist die hier beschriebene Neuentdeckung, deren Gehalt und inhaltliche Stoßrichtung dem Text einen manifesthaften Charakter verleihen.
„Kunst ist immerwährend!“ Wie ein Paukenschlag eröffnet Schieles erster Satz die Ausführungen. Für einen Revolutionär wie ihn eigentlich überraschend wird damit nicht der Bruch mit dem Vorangehenden und der Konvention betont, sondern das Durchgehende, Unaufhörliche und Permanente von großer Kunst als etwas Unsterblich-Ewigem. Ein derartiges Bekenntnis aus der Feder des jungen Künstlers, des Mitbegründers des österreichischen Frühexpressionismus und oft gescholtenen Tabubrechers, ist keineswegs selbstverständlich. Es gehe laut Schiele um das Zeitlose und bei der Kunstbetrachtung nicht allein um das Sehen, sondern um ein wesenhaftes „Hineinschauen“. Das Kunstwerk sei eine Offenbarung, entstanden aus Notwendigkeit. Der vom Publikum geforderte Beitrag dürfe dabei kein geringer sein. Schiele lässt uns tief in sein eigenes Kunstverständnis blicken. Selbst wenn das Kunstwerk käuflich gehandelt werde, bleibe es seinem Wesen nach unbezahlbar.
Schiele ist 21 Jahre alt, als er den Text verfasst, der mit „17. Juli 1911“ datiert ist. Die Ausführungen füllen alle vier Seiten des kleinformatigen Briefpapiers. Die Zeilen sind eng beschrieben. Keine Korrekturen oder Streichungen verunstalten den Gedankenfluss. Der Text wirkt wie in einem Guss entstanden, ist grammatikalisch nahezu fehlerfrei und erscheint wie eine Reinschrift. Geschrieben ist er auf einem einfach gefalteten Briefbogen; an dem Papier sind der blaue Farbschnitt und das blaugraue Karo der Papierrasterung bemerkenswert. Dieses ungewöhnliche Briefpaper verwendet Schiele selten. Unter den heute nachweisbaren Schiele-Autographen finden wir es erstmals in einem Brief des Künstlers vom 28. Juni 1911.
Danach benutzt er es interessanterweise mehrfach, aber nur während eines kurzen Zeitfensters in den drei Monaten von Juni bis August des Jahres 1911. Der neu aufgetauchte Text mit der Datierung vom 17. Juli 1911 passt also zeitlich bestens zum bekannten Bestand.
Es ist spannend, den Inhalt dieser Botschaft mit anderen Schiele-Äußerungen in Bezug zu setzen. Dabei wird deutlich, wie sehr ihm die hier formulierten Kerngedanken am Herzen liegen. Bislang ist Schieles programmatisches Bekenntnis zur „immerwährenden Kunst“ vor allem aus einem Text bekannt, der im März 1911 erstmals unter dem Titel „Entwurf zu einem geschriebenen Selbstbildnis“ publiziert wird. Dort heißt es inhaltlich identisch, aber in anderer Wortstellung: „Ich glaube, daß es keine ,moderne‘ Kunst gibt, daß es nur eine Kunst gibt, und die ist immerwährend.“
Auch in einem zwei Monate später verfassten Brief an seinen Onkel Leopold Czihaczek verkündet Schiele: „Ich weiß daß es keine moderne Kunst gibt, sondern nur eine, – die immerwährend ist.“ In diesem Brief voller Aphorismen findet sich auch der Satz: „Das Kunstwerk ist unbezahlbar, es kann erworben werden.“
All das sind grundlegende Gedanken eines jungen Senkrechtstarters. Zum Zeitpunkt, als er den Text verfasst, hat er eben erst seinen 21. Geburtstag gefeiert. Man verliert heute viel zu leicht aus den Augen, wie viele Karrierestufen der junge Maler damals schon erklommen hat. Mit 19 Jahren bricht er das Studium ab, im selben Jahr gibt er sein Wiener Ausstellungsdebüt auf der „Internationalen Kunstschau“ 1909, kann schon damals auf die tatkräftige Unterstützung von Sammlern und Käufern zählen, darunter engagierte Großsammler wie der Industrielle Carl Reininghaus.
Mit Arthur Roessler steht ihm ein kundiger Impressario und Strippenzieher zur Seite. Als Schiele von April bis Mai 1911 seine erste Einzelausstellung zeigt, findet sie an der unbestritten ersten Adresse statt: bei H. O. Miethke in der Dorotheergasse, einer Galerie, die niemand Geringeren als Gustav Klimt exklusiv vertritt und Monet, Manet sowie die anderen großen Klassiker der französischen Moderne präsentiert. Schieles Eintritt in die Kunstwelt entwickelt sich also unwahrscheinlich dynamisch. In Deutschland wird 1911 für ein Museum ein erstes Schiele- Gemälde angekauft. Der Einbruch kommt erst im folgenden Jahr 1912 mit der Neulengbach-Affäre, als Verurteilung und Zuchthaus Schiele fast aus der Bahn werfen.
Zurück zum vorliegenden Schriftstück: Nicht alles in dem Text lässt sich klar zuordnen. Da ist etwa von einem „körperlich gewiegten Mann“ in Mödling die Rede. Wer sich dahinter verbirgt, bleibt unklar. Offensichtlich fühlt sich Schiele von ihm massiv attackiert („in dem Moment wo er übel nachredet zeigt er selbst seine erbärmliche Armut!“). Damals und speziell im Jahr 1911 muss sich Schiele ja immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, künstlerisch zunächst von Gustav Klimt und um 1910/11 besonders von Oskar Kokoschka abhängig zu sein. Aber was den Mödlinger Widersacher angeht, ist sich Schiele sicher: „Nach 50 Jahren wird man nichts wissen von ihm.“ Womit er recht behalten sollte. Es sind wohl Angriffe wie dieser, die Schiele zur Überzeugung bringen: Nicht jeder könne Kunst verstehen, „dazu sind einige begabt“. Aus Schieles Sicht stellt sich der Konflikt als ein klarer Gegensatz zwischen der breiten Masse – „Die Menge ist natürlich unmaßgebend für das Kunstwerk“ – und der „Göttlichkeit der großen Kunst“ dar.
Hierher passt auch Schieles abfällige Bemerkung über Uniformiertes („Wie klein sind alle die die Uniformen benötigen“). In seiner konstitutiv-individuellen Haltung ist Schiele alles Uniformierte zuwider. Aus anderen Dokumenten wissen wir, dass er sich 1911 ernsthaft Sorgen macht, zum Militär eingezogen zu werden. Doch dem Tragen einer Uniform entgeht er – noch. Dies ändert erst der Beginn des Ersten Weltkrieges, als er 1915 den Wehrdienst antreten musste.
Der Adressat des neu aufgetauchten Schreibens bleibt bedauerlicherweise unklar und lässt sich vorerst auch nicht aus der Provenienz erschließen. Viel wahrscheinlicher aber ist ohnehin, dass sich Schieles grundlegende Mitteilung nie an eine Einzelperson gerichtet hat. Trotz Verwendung des Briefpapiers fehlt ja eine briefliche Anrede. Stattdessen hat der Text etwas von einer öffentlichen Erklärung. Auch das passt ins Bild: Schiele ist sich zu jeder Zeit – selbst als er 1912 im Gefängnis sitzen wird – seines grundsätzlichen Sendungsbewusstseins als Künstler sicher.
Die neu entdeckte Botschaft endet mit den Worten: „Kaufen werdet ihr niemals Kunstwerke können, sie sind unbezahlbar, es gibt keine Summen dafür. Erwerbet Fragmente eines Künstlers! Egon Schiele“. Der Maler und Zeichner Egon Schiele ist sich der Problematik von Kunst als Broterwerb bewusst. Sich selbst aber sieht er woanders. Wir können Fragmente erwerben – Fragmente aber nicht verstanden als Bruchstücke im Sinn eines unvollendeten Werkes, sondern als Leitmetaphern der Moderne, als Teile eines und Teilhabe an einem größeren Ganzen.
Tobias G. Natter ist ein international tätiger Ausstellungsmacher, Gutachter und Sachverständiger für die Wiener Kunst um 1900. Er war lange Zeit Chefkurator an der Österreichischen Galerie Belvedere. Später leitete er als künstlerischer Direktor das vorarlberg museum und anschließend das Leopold Museum Wien. Zuletzt organisierte er für die Neue Galerie New York die erfolgreiche Schau „The Self-Portrait: From Schiele to Beckmann“ (2019).
INFORMATIONEN zur AUKTION
Auktionsdatum: Auktion Klassische Moderne, 26. November 2019, 17.00 Uhr
Auktionsort: Palais Dorotheum, Dorotheergasse 17, 1010 Wien
Besichtigung: 16. November 2019 –26. November 2019
Informationen: Andreas Löbbecke, Experte für Autographen im Dorotheum