Intensität, Experimentierfreude, Humor: Das ist es, wonach die international gefeierte deutsche Schauspielerin Nina Hoss in einem Kunstwerk sucht. Dorotheum myART MAGAZINE sprach mit dem Co-Star des für sechs Oscars nominierten Films „Tár“ über Fritz Lang, Fugen und die Freiheit des Ausdrucks.
Eine Kolonne von schwarzen Limousinen wartet auf dem Potsdamer Platz darauf, Nina Hoss und Cate Blanchett zum nahe gelegenen Berlinale Palast zur Premiere ihres Films „Tár“ zu bringen. Scharen von Fans lassen sich von den Ritz-Carlton-Türstehern mit ihren schwarzen Melonen kaum in Schach halten. Nina Hoss, das Objekt ihrer Bewunderung, sitzt im Neo-Art-Deco-„Curtain Club“ des Hotels, eine Flöte mit Rosé-Champagner in der Hand, die blonden Haare zu einer Tolle im Stil der 1930er-Jahre hochgesteckt. Um sie und den Fedora tragenden Regisseur von „Tár“, Todd Field, scharen sich Bonvivants aus der Film- und Musikbranche – ein Setting, das der Szene einen Hauch von Kabarett der Weimarer Republik verleiht. Während Blanchett ihre Teilnahme an dem Film, in dem es um die Themen Grooming und Machtmissbrauch geht, als „potenziell karrieregefährdend“ bezeichnet, erklärt Hoss, sie sei bei der Wahl ihrer Rollen schon immer furchtlos gewesen.
Nina Hoss: „Ich habe mit dieser ganzen Sache angefangen, indem ich eine Prostituierte gespielt habe, in ,Das Mädchen Rosemarie‘. Das hat mich fast an die Spitze des deutschen Films katapultiert und mir von einem sehr frühen Alter an immense Möglichkeiten eröffnet. Also wirklich, wenn es um Rollen geht, würde ich nur nein sagen, wenn sie langweilig wären!“
Ist denn der Potsdamer Platz, das Zentrum des Berliner Nachtlebens der Vorkriegszeit, ein geeigneter Ort, um über ihren liebsten deutschen Film aller Zeiten zu sprechen: den von Fritz Lang inszenierten Unterweltthriller „M“ aus dem Jahr 1931, in dem selbst- ernannte Gesetzeshüter einen Kindermörder jagen? „Die Rede, die die von Peter Lorre gespielte Hauptfigur am Ende hält, porträtiert auf erstaunliche Weise eine Person, die zwar schuldig ist, die man aber trotzdem versteht. Das ist bizarr, beängstigend und zugleich faszinierend.“ Nina Hoss hält inne, sieht sich nachdenklich um, dann fährt sie fort. „Aber wenn wir schon über Kunst sprechen, dann ist ,Metropolis‘ vielleicht der größte Film von Lang. Die Bilder, die er geschaffen hat, und auch der politische Sinn, der darin steckt, sprechen einen an, zugleich ist der Film auch so klug – er handelt von der conditio humana.“ Glaubt sie, dass Berlin heute der monu- mentalen Modernität entspricht, die Lang in diesem expressionistischen Science-Fiction-Meisterwerk von 1927 vor Augen hatte? „Ich weiß nicht, ob die Umgestaltung des Potsdamer Platzes so gelungen ist, aber zumindest hat man sich bemüht. Was ich wirklich liebe, ist neben der Berliner Philharmonie von Hans Scharoun und der gesamten Architektur rund um die Museumsinsel insbesondere die Neue Nationalgalerie von Mies van der Rohe. Ansonsten finde ich Berlin wenig abenteuerlustig, sogar ängstlich. Ich hatte das Gefühl, dass es nach dem Fall der Mauer einen Moment gab, in dem man experimenteller hätte sein können, aber man hat ihn verpasst! Berlin ist voll von Glasgebäuden, die vorgeben, transparent zu sein, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass das Gegenteil der Fall ist.“
In „Tár“ spielen Nina Hoss und Cate Blanchett ein lesbisches Power-Paar der klassischen Musik, das in seinem Penthouse im Krypto-van-der-Rohe-Stil auf dem Dach eines umfunktionerten Bunkers aus dem „Dritten Reich“ – in Wirklichkeit handelt es sich um den sogenannten Boros-Bunker – ein Luxusleben führt, umgeben von einer herausragenden Sammlung zeitgenössischer Kunst. Nina Hoss schwärmt, dass zu ihren Lieblingsobjekten dort ein Paar Tische mit „markanten weißen Beinen“ aus den 1960er-Jahren gehörte, „das vom Set des James-Bond-Films ,Goldfinger‘ stammte.“ Das Filmteam wiederum erzählt, dass für bestimmte Szenen Kunstwerke im Wert von Millionen Euro umgehängt worden seien.
„Die Dreharbeiten dort, die Wohnung, die Art und Weise, wie sie von Todd gestaltet wurde … all das fühlte sich für unsere Figuren so richtig an, dass man nichts in Frage stellen würde, denn obwohl es eklektisch war, ergab alles einen Sinn. Es war experimentell, zugleich aber auch beruhigend, und das ist es, was ich an Kunst liebe“, so Nina Hoss.
Bevor sie nach Berlin zog, um Schauspiel zu studieren, wuchs sie in einem kulturaffinen Stuttgarter Haushalt auf. „Meine Mutter war Schauspielerin und Regisseurin, mein Vater war Arbeiter, bevor er die Grünen mitbegründete und dann viele Jahre im Bundestag saß. Es war ein unglaublich lebendiger Haushalt, mit vielen Künstlern, Politikern, Debatten mit gutem Essen, gutem Wein. Von meinem 13. Lebensjahr an bin ich jedes Jahr in den Amazonas-Regenwald gereist, flussaufwärts, wo mein Vater unter anderem mit den indige- nen Stämmen zusammenarbeitete.“ Doch selbst im brasilianischen Urwald gibt es ein Opernhaus, wie in Werner Herzogs Film … „,Fitzcarraldo‘!“, unterbricht sie. „Um ehrlich zu sein, habe ich wohl einiges davon erlebt, Taranteln und andere Überraschungen, richtige Abenteuer. Diese ganze Kindheit hat mein Interesse am Charakter, an den Menschen geweckt, und deshalb mache ich heute, was ich mache.“
Mit welcher Kunst ist sie aufgewachsen, welche Künstler hat sie geliebt? „Otto Dix, George Grosz und diese Art von Künstlern, bis hin zu Francis Picabia. Die Leute, die einen anderen ,Blick‘ auf Deutschland hatten, und von dort zu Gerhard Richter. Für meine Schauspielerei finde ich auch Goya unglaublich inspirierend, und als wir in Dresden für ,Tár‘ drehten, bin ich frühmorgens aufgestanden, um die Vermeer-Ausstellung zu besuchen. Die Art und Weise, wie er seine Figuren darstellt, ist so raffiniert, dass man das Gefühl hat, die Personen, die er in diese Gemälde setzt, wirklich zu kennen, denn sie strahlen! Man spürt, dass Vermeer die Menschen, die er porträtiert, wirklich liebt. Dieses Gefühl auf die Leinwand bringen zu können, ist unglaublich.“
Nina Hoss ist bekannt dafür, mit den subtilsten Ausdrücken oder Gesten ein großes Spektrum emotionaler Nuancen darstellen zu können, nicht unähnlich Vermeer. „Man spürt, dass man nicht zu viel tun sollte und dass die Kamera schon einfangen wird, was sie braucht. Das war der Spaß, den ich mit Sharon [der von Hoss ver- körperten Figur in ,Tár‘, Anm. d. Red.] hatte … Ich hatte viele Gele- genheiten zu beobachten, wo ich alles in einen Blick packen konnte. Ist das etwas, was ich schon kenne? Gibt es eine Vorgeschichte dazu? Oder ist es etwas Neues für mich, etwas Schockierendes?“
Welche anderen Kunstformen bewegen sie? „Ich habe mit Christian Jankowski gearbeitet und durch ihn etwas über Videokunst gelernt. Oder beispielsweise auch William Kentridge. Das sind Künstler, die mich ungemein faszinieren, weil sie eine enorme Tiefe haben, aber auch viel Humor. Ich habe einige wunderbare Fotos von Jankowski, die er vom Studio Nam June Paiks, des Schöpfers der Videokunst, gemacht hat; drei Zeichnungen von George Grosz, die meine Mutter erstaunlicherweise auf einem Markt in Süddeutschland gefunden hat und die ich sehr schätze; und zwei Gemälde von Horst Antes. Von meinem Vater habe ich zwei amazonische Kopfbedeckungen, wie sie die Oberhäupter einzelner Stämme trugen; er bekam sie geschenkt. Sie sind absolut umwerfend.“
Theaterliebhabern ist Nina Hoss auch von ihren Auftritten in Hofmannsthals „ Jedermann“ bei den Salzburger Festspielen bekannt. Tatsächlich, gibt sie zu, würde sie die Bühne vermissen: „Nach fünf Jahren Theaterpause probe ich wieder, und ich merke, wie sehr ich das Adrenalin des Bühnenauftritts brauche, denn ansonsten habe ich einfach zu viel Energie, was für meine Dreharbeiten etwas problematisch ist! Wenn du filmst, sollte es sich nicht wie Schauspielerei anfühlen, du bist einfach in diesem Moment da, du musst nicht zeigen, was du meinst. Man ,ist‘ einfach. Aber um dahin zu kommen, muss man auf so viel Spaß, so viel Experimentieren verzichten, und ich bin einfach so ein lebendiger Mensch!“ Wie würde sie die Arbeit in Österreich mit der in Deutschland vergleichen? „Ich glaube, die Wertschätzung für die darstellenden Künste ist in Österreich höher. Es gibt dort eine andere Theatertradition, man hegt eine Liebe für alle, die in diesem Bereich arbeiten. Die Schauspieler werden auf eine Art und Weise geschätzt, von der man in Berlin, wo das Umfeld viel rauer ist, nur träumen kann! Die zwei Jahre, die ich in Salzburg verbracht habe, waren etwas Besonderes. Wenn man mit dem Spielen fertig war, sprang man in den Fuschlsee oder in den Wallersee. Neben dem Theater gab es ein Restaurant, das Triangel, in dem man mit Christina Schaffer, René Pape oder Anna Netrebko ein Glas Wein trinken konnte, und das inmitten ganz normaler Festspielbesucher. Die Mischung an Leuten war sehr beglückend – ebenso wie die Möglichkeit, zwischen den Proben den Berg zum Museum hinaufzusteigen, um sich Kunst anzusehen.“
„Tár“ ist in gewisser Weise ein Film über die Cancel Culture. Hält Nina Hoss die Identität einer Person, die Kunst macht, für wesentlich? „Ich denke, dass das Werk für sich selbst spricht. Denn Kunst ist etwas, was größer ist als wir, und ich möchte sie nicht auf die Person reduzieren, die diese Kunst macht, sei es in einem Film, sei es in der Schauspielerei oder im Gesang. Für mich ist es nicht so ein- fach zu sagen: ,Jemand hat sich danebenbenommen, und jetzt werde ich mir seine Kunst nie wieder ansehen.‘ Ich verstehe, dass manche Leute meinen, so vorgehen zu müssen. Ich verurteile das nicht, aber ich denke, man muss zumindest die Umstände in Betracht ziehen, unter denen die Künstler gelebt haben – in einer bestimmten Zeit waren die Kultur und die sozialen Gepflogenheiten anders.“
Als sich der Pressesprecher von Universal Pictures nähert, um zu signalisieren, dass unsere Zeit um ist, denken wir daran, wie überzeugend Nina Hoss in ihrer Rolle als Erste Geigerin der Berliner Philharmonie in „Tár“ mit dem Thema Zeit umgeht. In dieser Rolle folgt sie den Gesten und dem Zeitgefühl der herrischen Dirigentin. „Es war schwierig, ich musste lernen, wie man rhythmisch richtig zählt und konnte mich beim Violinespielen nicht nur auf mein Gefühl verlassen. Es ist rätselhaft, denn der Takt ist nie bei dir, er ist dir immer ein wenig voraus, und das ist so verwirrend. Wenn man Dirigenten beobachtet, sieht man, dass sie ständig antizipieren, der ,da-da‘-Ton kommt nicht mit ihren eigentlichen Gesten.“
In derselben Woche, in der „Tár“ in Deutschland uraufgeführt wurde, ließ die Berliner Philharmonie die Fiktion zur Wirklichkeit werden und ernannte erstmals eine Frau zur Ersten Geigerin. Hat Nina Hoss’ Darstellung sie zum Handeln gezwungen? „Ich glaube, das könnte sein! Ich hoffe es sehr! Demnächst arbeite ich als Sprecherin mit den Berliner Philharmonikern zusammen, für ein Stück von Strawinsky, da werde ich sie fragen. Ich freue mich sehr, ich konnte es nicht glauben, als ich gestern die Nachricht von der Ernennung las. Endlich imitiert das Leben die Kunst, und das macht mich glücklich!“
NINA HOSS
Nina Hoss ist eine der renommiertesten Schauspielerinnen des deutschsprachigen Kinos und Theaters. Sie wirkte in unzähligen Produktionen mit, bevor sie in Hollywood mit ihren Rollen in „A Most Wanted Man“, „Homeland“ und jetzt „Tár“ begeisterte. Die 1975 geborene Schauspielerin wuchs in Stuttgart auf, studierte an der Ernst Busch Schauspielschule in Berlin und stand ab 1995 auf der Bühne. Unmittelbar nach ihrem Abschluss wurde sie von Regisseur Bernd Eichinger für die Hauptrolle seines Spielfilms „Das Mädchen Rosemarie“ besetzt. Danach arbeitete sie mit Regisseuren wie Volker Schlöndorff, Christian Petzold und Anton Corbijn sowie mit Leinwandgrößen wie Stellan Skarsgård und Philip Seymour Hoffman zusammen. Als langjähriges Ensemblemitglied des Deutschen Theaters Berlin stand sie dort in „Emilia Galotti“, „Minna von Barnhelm“, „Medea“ und „Hedda Gabler“ auf der Bühne. Für ihre Hauptrolle in „Yella“ erhielt sie 2007 den Silbernen Bären. Nina Hoss stammt aus einer politisch aktiven Familie und war bereits zweimal Delegierte der Grünen in der Bundesversammlung. Sie ist mit dem walisischen Musikproduzenten Alex Silva verheiratet und lebt in Berlin.