Ein seltenes Werk der Petersburger Interieurmalerei gibt ein Geheimnis preis: von einem Zaren-Palast, dessen Sakralraum so ausgestattet war, dass er nicht den strengen Regeln der orthodoxen Kirche entsprach. Jenes Bild kommt nun am 20. Oktober 2016 in der Auktion Gemälde des 19. Jahrhunderts zur Versteigerung.
Piotr Tutukin (1819–1900) wurde als Sohn eines kaiserlichen Palastdieners geboren. Er selbst war Heizer im Petersburger Winterpalast. Aufgrund seiner künstlerischen Begabung erhielt er die Erlaubnis, als Gasthörer die Kaiserliche Kunstakademie zu besuchen, wo sein besonderes Talent als Interieurmaler bald erkannt wurde. Ab 1855 war Tutukin Mitglied der Kaiserlichen Kunstakademie, 1879 wurde er Kustos der Gemäldegalerie der Eremitage. Von ihm gemalte Ansichten der Innenräume des Winterpalastes befinden sich heute in deren Sammlung.
Tutukins Darstellung einer Palastkirche, die nun im Dorotheum zur Auktion kommt, befand sich mehr als 100 Jahre im Besitz einer deutschen Familie, in der sich die Meinung überliefert hatte, dass das Gemälde die Kirche im Winterpalast zeige. Von der Inschrift auf dem Bildrücken waren nur das Datum, der Name des Künstlers und das Wort „Palast“ gut zu lesen; zudem schienen die roten Gardinen an den Fenstern deutlich darauf hinzuweisen, dass es sich um einen Raum im Zarenpalast handelte.
Allerdings ist der Raum der Kirche im Winterpalast doppelt so hoch und sieht völlig anders aus. Dokumente und Darstellungen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts halfen schließlich, die Kirche zu identifizieren: Tatsächlich zeigt Tutukins Gemälde die Kirche des Hl. Alexander Newski im Anitschkow-Palais auf dem Newski-Prospekt. Nach dem großen Brand im Winterpalast 1837 war das Anitschkow-Palais Residenz Zar Nikolais I., der es wenig später seinem Sohn, dem späteren Zaren Alexander II., schenkte. Um diese Zeit baute man den alten barocken Palast im Stil des Klassizismus um. Hofarchitekt Sachar Dildin konzipierte dabei auch die Palastkirche neu: Sie befand sich nun auf der zweiten Etage und wies daher eine niedrigere Raumhöhe auf. Geschmückt war sie mit zwölf Engelsfiguren aus Marmor des Bildhauers Iwan Witali. Ausgerechnet Witalis Engel führten zur nächsten Neuausstattung der Palastkirche: Die Statuen im Kirchenraum entsprachen nicht den strengen Regeln der orthodoxen Kirche. So unterzog man die Kirche des Hl. Alexander Newski im Anitschkow-Palais 1866 neuerlich einem vollständigen Umbau. Das Gemälde Tutukins zeigt uns diese Kirche, wie sie nur über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren aussah.
Olga Sugrobova-Roth ist Expertin für Russische Kunst.
Auktion Gemälde des 19. Jahrhunderts
Donnerstag, 20. Oktober 2016, 17.00 Uhr
Palais Dorotheum Wien
Bild oben:
Piotr Tutukin
Perspektivenansicht der Palastkirche des Hl. Alexander Newski
im Anitschkow-Palais in St. Petersburg, 1850
Öl auf Leinwand auf Sperrholz, 120 x 128 cm
Schätzwert € 30.000 – 40.000
Auktion Gemälde des 19. Jahrhunderts, 20. Oktober 2016