Alighiero Boetti: Zeichen & Rätsel

Alighiero Boetti, Non parto non resto, um 1981, blauer Kugelschreiber auf Papier, vier Elemente, 102 x 288 cm (gesamt), 102 x 72 cm (je Element), Schätzwert € 400.000 – 600.000

Alighiero Boetti (1940–1994) war zweifellos eine der kreativsten und produktivsten Künstlerpersönlichkeiten Italiens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine seiner berühmten „Biro“-Arbeiten zählt zu den Highlights der Contemporary-Auktion im Mai.

Alighiero BoettiAls komplexen chamäleonartigen Charakter und feinen Intellektuellen beschrieb der Kunsthistoriker Achille Bonito Oliva kürzlich anlässlich einer Retrospektive im Museum MAXXI in Rom den Künstler Alighiero Boetti, der sich in seinem Leben zwischen oft widersprüchlichen Haltungen hin- und herbewegte. Diese Gespaltenheit kommt schon in seiner Signatur „Alighiero e Boetti“ – „Alighiero und Boetti“ – zum Ausdruck. So, als wolle er mit der Splittung des Namens auf divergierende Identitäten verweisen, die er in einer Person vereint.

Der aus Turin stammende Künstler lässt sich schwer einer einzigen künstlerischen Bewegung zuordnen. Sein Schaffen erstreckte sich über mehr als 30 Jahre, in denen sich Boetti auf äußerst eklektische Weise zwischen diversen Strömungen bewegte: von der Arte Povera, mit der die künstlerischen Anfänge verbunden sind, bis zur Mail Art, von eher konzeptuellen Richtungen bis zur Rückkehr zur traditionellen Malerei und zum Kunsthandwerk. Boetti fühlte sich vielen Richtungen verbunden, wobei er ein romantisch überhöhtes künstlerisches Selbstverständnis stets ablehnte. Von den 1970er- Jahren an war Boetti einer der ersten italienischen Künstler, die sich mit der geheimnisvollen Welt des Nahen Ostens beschäftigten. Eine besonders innige und dauerhafte Verbindung baute er zu Afghanistan auf.

Alighiero Boetti, L’insensata corsa della vita,1989, Stickerei auf Leinwand, 20,5 x 21 cm Schätzwert, € 30.000 – 40.000
Alighiero Boetti, L’insensata corsa della vita,1989, Stickerei auf Leinwand, 20,5 x 21 cm Schätzwert, € 30.000 – 40.000
Alighiero Boetti, Dall’oggi al domani, um 1989, Stickerei auf Leinwand, 17,5 x 18 cm, Schätzwert € 30.000 – 40.000
Alighiero Boetti, Dall’oggi al domani, um 1989, Stickerei auf Leinwand, 17,5 x 18 cm, Schätzwert € 30.000 – 40.000

Es war dies die Phase der Reife des Künstlers; eine Zeit, stark geprägt von den gestickten Weltkarten, den „Mappe“, die Boetti entwarf und deren Herstellung er Stickerinnen in Kabul übertrug. Vor allem aber waren es Jahre neuer gemeinschaftlicher Arbeitsmethoden, mit denen sich der Künstler der Welt, ihrer Vielfalt und Verschiedenartigkeit öffnete – tief beeinflusst von einem humanistischen Sozialismus und sich damals in Europa verbreitenden marxistischen Visionen. Parallel zur Serie der „Mappe“ arbeitete Boetti an einer weiteren Reihe von Werken, die sich ebenfalls durch die Zusammenarbeit mit anderen als wesentliche Komponente auszeichnen. Es handelt sich dabei nicht, wie bei den politischen Weltkarten, um Stickbilder; vielmehr wurden die Arbeiten von Studenten, Freunden oder gelegentlichen Mitarbeitern mit einem Werkzeug geschaffen, das in der Geschichte der zeitgenössischen Kunst lange Zeit geringgeschätzt wurde: dem Kugelschreiber. Es entstanden die „Biro“-Arbeiten.

Alighiero Boetti, Non parto non resto, um 1981, blauer Kugelschreiber auf Papier, vier Elemente, 102 x 288 cm (gesamt), 102 x 72 cm (je Element), Schätzwert € 400.000 – 600.000
Alighiero Boetti, non parto non resto, um 1981, blauer Kugelschreiber auf Papier, vier Elemente, 102 x 288 cm (gesamt), 102 x 72 cm (je Element), Schätzwert € 400.000 – 600.000

Das Werk mit dem Titel „Non parto non resto“ aus der Zeit um 1981 ist ein Polyptychon von beträchtlicher Größe, das aus vier Elementen besteht. Die dicht gesetzten Striche füllen den Grund aus und ergeben eine fast monochrom erscheinende Oberfläche, die an die früheren Experimente von Yves Klein oder die weitaus älteren Fresken Giottos in Padua erinnert. Die Tafeln erscheinen dem Betrachter als rätselhaft, sie bergen ein Geheimnis, das es zu lüften gilt. Das Rätsel beginnt beim Titel, einem vagen Verweis auf die in Vergils „Aeneis“ erzählte unglückliche Liebesgeschichte zwischen Dido und Aeneas: „Non parto non resto“, „Ich gehe nicht, ich bleibe nicht“ – auch Aeneas steht zwischen Gegensätzlichem. Die Konstellation der Zeichen auf den Tafeln wird zuweilen von Kommas unterbrochen, die wie kleine Sterne im Raum stehen. Diese 16 Kommas, die sich auf das Alphabet auf der ersten Tafel beziehen, sind der Schlüssel zur Interpretation, die Koordinaten für die Deutung des Werks. Der aufmerksame Betrachter wird die keineswegs zufällige Anordnung der Kommas verstehen, die auf jeweils einen Buchstaben des Alphabets auf ihrer Höhe verweisen und von links nach rechts zu lesen sind. So offenbart sich der Bildtitel mithilfe eines kuriosen und ungewöhnlichen Spiels der Verknüpfungen.

Alessandro Rizzi ist Experte für Moderne und Zeitgenössische Kunst im Dorotheum.

AUKTION

Zeitgenössische Kunst, 24. Mai 2023, 18 Uhr
Palais Dorotheum, Dorotheergasse 17, 1010 Wien

20c.paintings@dorotheum.at
Tel. +43-1-515 60-358, 386

Durchstöbern Sie jetzt den Auktionskatalog und lesen Sie unser neues myART MAGAZINE!

No Comments Yet

Comments are closed




Auktions-Höhepunkte, Rekord-Preise und spannende Kunst-Geschichten. Mit dem Dorotheum Blog sind Sie immer am Puls des Auktionsgeschehens!


Archive