Christian Thielemann – Es muss nicht immer Musik sein!

Sein Faible abseits von Beethoven, Wagner und Co. sind Stadtansichten, Porträts und Möbel aus Berlin und Preußen um 1800, das alles „garniert mit Ausreißern“: Stardirigent Christian Thielemann als Kunstsammler über Inspirationen, Intuition und Geschmacksfragen. Und darüber, was die ostpreußische Landschaft mit Anton Bruckner zu tun hat.

Faszination. Leidenschaft. Begeisterung. Diese Worte fallen im Gespräch des Dorotheum myART MAGAZINE mit Christian Thielemann in Dresden nicht etwa im Zusammenhang mit Wagners „Meistersingern“ oder Beethoven-Symphonien. Sie gelten Kunstwerken, von denen der weltberühmte Kapellmeister überzeugt ist, dass sie ihn in der Musik besser machten. Wobei er durchaus Parallelen zwischen der bildnerisch-künstlerischen und der musikalischen Interpretation sieht.

Dorotheum myART MAGAZINE: Wie darf man sich Christian Thielemann als Kunstsammler vorstellen? Christian Thielemann: Das Sammeln gab es immer schon parallel zur Musik. Es ging in der Schule los, sukzessive kamen, je nach meinen finanziellen Möglichkeiten, zuerst Radierungen, später Gemälde und Möbel. Übergeordnetes Thema ist das Topografische, sind die Orte – Berlin, Brandenburg, Preußen um 1800, später kamen Porträts dazu. Das alles ist garniert mit Ausreißern. Man muss alles durchbrechen, damit es nicht einseitig wird.

Wie sieht dieser Stilmix aus? Das Riesenspektrum, das man in Kunstzeitschriften sieht, ist nicht so das Meine. Ich bin lieber bei Louis-quinze-Wandappliken und dem wunderbaren Preußen um 1800 – dieser ganz einfachen Sache, auf die sich auch das Bauhaus bezogen hat. Vom Bauhaus bin ich gleichzeitig fasziniert und erschrocken, weil es fast zu einfach ist. Aber wenn Sie das kombinieren, ist es wunderbar.

Christian Thielemann © Matthias Creutziger

Man gewinnt fast den Eindruck, Christian Thielemann würde lieber in der Vergangenheit leben? Auf gar keinen Fall, schon aus medizinischen Gründen nicht! Manchmal hätte ich gern die unzerstörten deutschen Städte gesehen, Berlin, Potsdam, Dresden oder Königsberg. Aber so hole ich die Dinge, die mir gefallen, zu mir nach Hause.

Die moderne Kunst gehört gar nicht dazu? Da frage ich mich: Wie entwickelt sich der zeitgenössische Blick auf die Topografie? Es gibt offenbar eine Angst, konservativ zu sein. Die letzte moderne Arbeit, die ich dazu erworben habe, war ein Lesser Ury, der Berlin zum Thema hat. Ich guck da immer wieder mal hin zu den Zeitgenossen. Durch die Bekanntschaft mit Neo Rauch kam ich der Leipziger Schule näher.

Neo Rauch hat im Vorjahr bei den Bayreuther Festspielen die Bühnenbilder für „Lohengrin“ entworfen. Hatten Sie als Musikdirektor Einfluss auf die Künstlerwahl? In diesem Fall war es meine Anregung. Ich hatte ihn bei einem Abendessen kennengelernt und mich gut mit ihm verstanden. Ich schlug ihn Katharina Wagner vor. Er kam nach Bayreuth und war von allem angetan.

Waren Sie auch von seiner Arbeit angetan? Über diese rätselhaften Gemälde habe ich mit ihm öfter in seinem Atelier gesprochen. Ich fragte ihn manchmal nach Details, warum etwas an jenem Platz sei. Er meinte: „Das muss doch da hin.“ Es muss nicht rational erklärbar sein. Das fand ich unglaublich interessant, weil dies einer musikalischen Interpretation ähnelt. Da müssen Sie auch nicht erklären, warum Sie das schneller oder langsamer spielen und warum Sie ein Ritardando machen. Dieses Offenlassen hat mich sehr fasziniert. Es muss schon einen Kern geben, von dem man ausgegangen ist, aber dieser Kern mäandert so hin und her. Und das wiederum macht mich beim Musizieren frei.

Eine Mischung aus Erfahrung und Intuition … Es ist viel Gefühl, das aber von der Erfahrung gespeist wird. Woher kommt Ihr Faible für Preußen, vor allem für Ostpreußen? Wir alle, auch die Österreicher, sind durch den „Eisernen Vorhang“ um den Osten betrogen worden. Wir waren schneller in San Francisco als in Warschau oder Moskau, im Baltikum. Gleich nach dem Mauerfall besuchte ich Schlösserruinen im ehemaligen Ostpreußen. Auf einmal hat man das Gefühl, der Himmel ist weiter und die Wolken sind anders. Diese langen Alleen mit riesigen alten Bäumen, die Sie selten sonst wo sehen … Ich habe fotografiert bis zum Abwinken. Diese Landschaft in ihrer Maßlosigkeit und Größe hat sehr viel mit Musik und mit dem eigenen Bewusstsein zu tun.

Wie gehen Landschaft und Musik zusammen? Wenn ich an Bruckner denke, dann kommt mir nicht St. Florian in den Sinn, sondern diese ostpreußische Landschaft. Ich dachte immer, wo Bruckner herkommt, ist es hügelig, aber auch dort ist es ganz flach. Diese weitläufige Landschaft ist für mich eine Verbindung. Ganz spezielle Kunst kommt aus dieser Gegend, Lovis Corinth oder Käthe Kollwitz.

Ihr Interesse ging so weit, dass Sie 2006 ein Buch über das für diese Gegend maßgebliche, längst nicht mehr existierende Schloss Friedrichstein herausgaben, das einst im Besitz der Grafen von Dönhoff stand. Mittlerweile ist es in der zweiten Auflage. Dazu kam es über eine Einladung der „ZEIT“-Herausgeberin Marion Gräfin von Dönhoff. Sie zeigte mir Relikte aus dem Schloss, die sich erhalten hatten, historische Fotos. Die Gartenfront von Friedrichstein ist für mich eine der schönsten, die es je gegeben hat. Ich habe Familienmitglieder angeschrieben und recherchiert, es gab nicht viel. Und dann finde ich eine Tasse mit der Abbildung von Friedrichstein im Dorotheum!

Teil eines von Christian Thielemann im Dorotheum ersteigerten Bilderpaars von Carl Traugott Fechhelm: Der südliche Teil des Spreeflügels des Berliner Schlosses mit der Erasmuskapelle und dem Haus der Herzogin, vorn die Lange oder Kurfürstenbrücke (heute Rathausbrücke);

Gab es im Dorotheum weitere Überraschungen? Ganz erstaunlich, dass ich Bilder von der Marienburg im Dorotheum fand – etwas ganz Seltenes. Die Wiederentdeckung der Marienburg durch Karl Friedrich Schinkel und Friedrich Gilly ist der Grund dafür, dass es in Norddeutschland diese besondere Ästhetik von Backsteinbauten gibt, die Backsteingotik – für Schulen, Kasernen, Krankenhäuser etc. Das ist hochinteressant und für unsere Kunstgeschichte so wichtig. Solche Dinge interessieren mich manchmal so, dass ich gar nicht so scharf darauf bin, Musik zu machen.

Es schafft eine gute Distanz? Vor allem: Man wird inspiriert. Als Künstler stehen Sie auf der Bühne. Immer muss ich geben. Wer gibt mir denn mal was? Zum Beispiel ein Kunstwerk. Ich lerne mit jeder Ausstellung dazu – vor Kurzem etwa, bei „Mantegna + Bellini“ in Berlin, über Eitempera. Einen halben Abend lang las ich über diesen Begriff und wunderte mich, dass es 500 Jahre alte Farben in dieser Qualität gibt! Die hatten damals kein Penicillin, keine Narkose bei der Operation, die Frauen starben im Kindbett – und machen so was! Ich bin fassungslos!

Ein Faible für historische Stadtansichten: Der Berliner Dom (in der von J. Boumann d. J. und G. W. v. Knobelsdorff geschaffenen Form 1747–50), signiert und datiert unten rechts (auf der Schubkarre): Fechhelm/1768;

Haben Sie auch Berater? Ich bin mein eigener Berater. Bei mir sind es Lustkäufe. Ich mache einen Katalog auf, gehe in eine Galerie: kaum hingeguckt, und das ist es. Wenn ich zu sehr überlegen muss, kaufe ich nicht.

Sie sind auch Leihgeber für diverse Museen.  Wo nehmen Sie die Zeit für all das her? Im künstlerischen Beruf braucht man andere Inspirationen. Was bin ich etwa in Wien schon durch die Stadt getigert! In diesem wunderbaren Winterpalais von Prinz Eugen war ich öfter. Ich muss nicht immer Musik machen. Ich sag mir: Jetzt musst du noch in eine Galerie gehen und  dir etwas Hübsches angucken, damit du nicht so ein Fachidiot bist – und dann bist du auch besser in der Musik! Insofern nehme ich mir die Zeit mehr und mehr. Ich lese Kunstzeitschriften, informiere mich, was auf dem Markt ist, und freu mich, was es da alles gibt. Auf der TEFAF zum Beispiel. Für mich gehört die Kunst dazu.

Aber eher jene mit Tradition. Ohne Tradition sind wir nichts. Das heißt nicht, dass wir ihr sklavisch folgen müssen, aber wir sagen uns nicht los. Hier am Schauspielhaus in Dresden steht ein wunderbares Goethe-Zitat: „Ältestes bewahrt mit Treue, freundlich aufgefasstes Neue“. Die Formulierung beinhaltet interessanterweise, dass Sie sagen können: „Ich hab’s freundlich aufgefasst, ich finde es scheußlich.“ Ich gehe gerne zu zeitgenössischen Ausstellungen, lass mich mal ein, versuch es zu verstehen. Nach einer Weile findet man doch einen Zugang. Oder man kommt an einen Punkt, wo es reicht.

Gibt es auch hier Parallelen zur Musik? Bei gewisser Musik kommt der Punkt, an dem sie nervt. Das ist mein persönlicher Geschmack, den ich nie zum Maßstab nehmen würde. Das ist mein Maßstab. Ich finde es sympathisch, wenn jemand mal etwas als ganz scheußlich bezeichnet. Man muss auch von den alten Sachen nicht alles gut finden. Was das Beste ist – der Geschmack verändert sich.

Christian Thielemann bezeichnet sich selbst lieber als Kapellmeister denn als Dirigent. Den Schwerpunkt seines Schaffens legt er auf das Opern- und Konzertrepertoire der deutschen Romantik. Musikkritiker rühmen den Dirigenten des Wiener Neujahrskonzertes 2019 für seine „Mischung aus Subtilität, akribischer Eleganz und großer Dynamik“ (Bayerischer Rundfunk). Der gebürtige Berliner begann seine Karriere mit 19 Jahren als Korrepetitor an der Deutschen Oper Berlin und als Assistent Herbert von Karajans. Nach Stationen in Gelsenkirchen und Düsseldorf war er ab 1988 als jüngster Generalmusikdirektor Deutschlands in Nürnberg, ehe er 1997 für sieben Jahre in dieser Funktion an die Deutsche Oper zurückkehrte. Von 2004 bis 2011 wirkte Thielemann als Generalmusikdirektor der Münchner Philharmoniker. Seit 2012 leitet er als Chefdirigent die Staatskapelle Dresden. 2015 wurde er zum Musikdirektor der Bayreuther Festspiele ernannt, die er seit seinem Debüt im Sommer 2000 alljährlich durch maßstabsetzende Interpretationen prägt. Im Jahr 2013 übernahm Thielemann die künstlerische Leitung der Osterfestspiele Salzburg.

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