Das Heilige in Alltagsgegenständen
„Ich bin ein Maler: Ich bin ein Visionär, aber ich male nicht. Ich habe die Vision zu entdecken, was Malerei in ihren Anfängen war. Die Vision ist das Handwerk des Malers.“ (Jannis Kounellis)
Das Bild verlassen, heraustreten aus den Grenzen, die die Leinwand auferlegt, „die Welt der Sinne umarmen und sich mit dem vitalen Chaos der Wirklichkeit verbinden (Germano Celant), das ist das Anliegen des griechischstämmigen, in Athen und Rom ausgebildeten Künstlers Jannis Kounellis. Als Maler greift er daher zu radikalen Mitteln: Kounellis „malt“ mit allem: mit Pferden und Schmetterlingen ebenso wie mit Eisen und Kohle.
ein Akt der Befreiung
„Die Verwendung von Materialien als ein Akt der Befreiung – ein Weg, um aus dem Bild herauszutreten. Mit Hilfe dieser schmerzhaften Trennung als Ausgangspunkt versuchen wir, ein Zentrum zu finden, das nie erneuert wird, das aber dennoch eine neuartige Idee enthält“, sagt Kounellis.
Mit seinem Bestreben, die Leinwand zu verlassen, schlägt Kounellis eine Richtung ein, die ihn mit den Künstlern wie Jackson Pollock oder Lucio Fontana verbinden, die ebenfalls versuchen, die Malerei von den gegebenen Zwängen zu befreien und sich davon zu lösen: Indem Pollock das Bild von der Staffelei nimmt, es auf den Boden legt und die Geste zum absoluten Protagonisten macht, indem Fontana durch seine gestischen Schnitte über die zweidimensionale Fläche hinausgeht. Malerei kann nicht mehr nur zweidimensional sein, sie hat Tiefe, Dichte.
Arte povera
Kounellis geht noch einen Schritt weiter, er verabschiedet sich von der Leinwand, erweitert ihren Raum und geht mehr und mehr in Richtung Bühne.
1967 stellt in der er gemeinsam mit Alighiero Boetti, Luciano Fabro, Pino Piscali, Giulio Paolini (erfahren Sie hier mehr zu Giulio Paolni) und Emilio Prini in der Galleria La Bertesca in Genua unter dem Titel „Arte povera e IM spazio“ aus. Der Titel Arte Povera wurde zum Namen der Bewegung. Der Kunstkritiker und Kurator Germano Celant schrieb für die Präsentation ein Manifest, in dem er die charakteristischen Momente der neuen Richtung postulierte: die Schaffung einer revolutioniären Kunst, Aufhebung der ikonografischen Konventionen und der traditionelle Symbolsprache. Banales wird zum Kunstwerk, wobei die Armut des Materials sowie die Armut der Mittel und Wirkungen wichtig sind. Unter „armen Materialien“ versteht man unbearbeitete, leicht erhältliche (gefundene), alltägliche Werkstoffe, wie Eisen, Kohle, Sackleinen, Lumpen, Steine, Feuer, Erde.
So verzichtet Kounellis auf die Leinwand zugunsten von Eisenplatten, auf die er Lebensspuren wie Säcke oder Kleider legt. Weil die Malerei den Künstler begrenzt, seinen schöpferischen Impuls unterdrückt, muss man über die Staffelei hinausgehen; will man der Realität begegnen, muss man den geschlossenen Raum eines Rahmens überwinden und überschreiten.
In der Galleria L´Attico stellte er 1969 zwölf lebende Pferde aus.
Jannis Kounellis
Der 2017 verstorbene Jannis Kounellis gilt heute als einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Die Arte Povera steht für entscheidende Entwicklungen der Nachkriegskunst und prägte die Kunst der 1960er und 70er Jahre.
Kounellis Arbeiten finden sich weltweit in Museen und wichtigen Kunstinstitutionen. Sechzig Jahren ist Kounellis seiner Sprache treu geblieben, seinem besonderen Farbspektrum – eine Bandbreite von Grau, Rost und schwarzem Rauch – das ihn unverkennbar macht. In seinen Kunstwerken subtrahiert er gewöhnliche Gegenstände von der anonymen Wiederholung industrieller Fertigung, um sie einzigartig und unersetzlich zu machen.
„Ich habe das Heilige gesehen“, sagt er, „in Alltagsgegenständen“.