Mark-Francis Vandelli: Wunderkammer

Warum es Spaß macht, Kunst zu besitzen, was das Gute am Kunstsammeln im 21. Jahrhundert ist und was den Geschmack der Russen so mondän macht: Großbritanniens Society-Liebling Mark-Francis Vandelli führt durch sein Heim, das ehemalige Lustschloss Oscar Wildes im Stadtteil Knightsbridge, und sinniert über Stil und Kunstpräsentation. Sigmund Oakeshott vom Dorotheum London zu Besuch in Mark-Francis Vandellis Wunderkammer.

Zwischen Tugend und Laster

Vandelli mit Francken
Das Gemälde „Der Mensch, der sich zwischen Tugenden und Lastern entscheiden muss“ aus 1633 von Frans Francken II, im Dorotheum um € 7.022.300 verkauft, wüsste Mark-Francis Vandelli gut zu präsentieren, hätte er es ersteigert.

Unter dem Portikus eines pompösen viktorianischen Backsteinbaus steht Mark-Francis Vandelli. Er hält eine Broschüre mit Auktions-Highlights in der Hand und überlegt ernsthaft, anlässlich unseres Erscheinens die Champagnerkorken knallen zu lassen: „Es ist wie bei eurem Frans-Francken-Bild: die Wahl zwischen Tugend und Laster – das ewige Dilemma der Menschheit.“ Vandelli hat sich für uns eine kleine Auszeit von seiner halben Million Instagram-Follower genommen, um zu besprechen, wie sich besagtes Werk, das bekanntermaßen ein Londoner Kunsthändler 2010 für knapp über sieben Millionen Euro im Dorotheum erstand, in ein schickes 2020er-Jahre-Interieur eingliedern ließe.

Oscar Wildes Erbe

Hinter dem jungen Kunstsammler gewährt ein Erkerfenster Einblicke in sein feudales neues Heim. Er hat Handwerker herbeizitiert und sich persönlich auf Einkaufstour für erlesene Dekoration begeben, um gleich nach dem Ende des Lockdowns wieder in vollen Zügen dem Leben frönen zu können. Apropos erlesen und Hedonismus: Eine originelle Gemeinsamkeit des Dorotheum London und Mark-Francis Vandellis ist Oscar Wilde. Ebenso wie das Stadthaus im Viertel St. James’s, in dem heute das Dorotheum untergebracht ist, war auch Vandellis Heim im Stadtteil Knightsbridge einst Herberge des angloirischen Dramatikers. „Das war nicht sein Hauptwohnsitz“, erklärt Vandelli, „hierher kam er, um sich zu vergnügen. Ich war entsetzt, was die späteren Besitzer mit dem Gebäude anstellten! Sie pflasterten die Böden mit Linoleum zu, zogen Zwischendecken ein und zerstörten den ursprünglichen neoflämischen Charakter komplett – wie bei einem zweiten Bildersturm. Das ist traurig, aber auch wieder spannend, weil ich gezwungen war, etwas ganz Neues daraus zu machen.“

Oscar Wilde
Ein interessanter Zufall: Oscar Wildes Stadthaus im Viertel St. James’s, ist heute Zuhause des Londoner Dorotheum, genauso wie das Haus in Knightsbridge, in dem Mark-Francis Vandelli wohnt, einst Oscar Wilde gehörte.

Wir schreiten unter einem (zweifellos translozierten) barocken Giebel hindurch und betreten den pastellfarbenen, mit Stuck versehenen Salon. Er mutet wie die Wunderkammer eines 32-Jährigen von heute an. Wir staunen über eine bronzene BAFTA-Trophäe, riesige Sphingen, einen Schildkrötenpanzer und viele andere Schätze … „Allerdings“, gesteht Kenner Vandelli, „müsste der Raum idealerweise achteckig sein.“ Er entschuldigt sich für einen Moment und huscht hinter ein „Concetto spaziale“ von Lucio Fontana, das, von zwei Bergkristall-Obelisken flankiert, an der verspiegelten Badezimmertür prangt. 

Eklektizismus des 21. Jahrhunderts

Kurz darauf fährt er fort: „Zeitgenössisches Design kann so nichtssagend und durchschaubar sein! Bis heute herrscht eine eintönige, geradlinige Schönheitsvorstellung vor. Das Gute am 21. Jahrhundert ist aber, dass all die strengen Stilregeln aufgehoben sind. Wir können nach Lust und Laune Elemente verschiedener Epochen und Orte so kombinieren, dass unser eigenes Schönheitsempfinden zur Geltung kommt. Solange die Proportionen stimmen und alles ausgewogen und harmonisch ist, sind Regeln obsolet. Sehen Sie sich das moderne, kosmopolitische London an: Es ist architektonisch ebenso vielseitig wie die Wiener Ringstraße – ein Potpourri an europäischen Stilen. Ich bin halb Italiener, halb Russe, bin zwischen London und Südfrankreich aufgewachsen, und dieses Haus ist ein Ausdruck dessen.“

Vandelli im SalonIch merke am Rande an, dass Vandellis Reliefs aus tanzenden Nymphen und hellblauem Putz stark an die Eremitage erinnern. „So ist es! Ich übernehme Elemente und verwende sie nach eigenen Vorstellungen. Deshalb ist auch der russische Geschmack so mondän – weil die Russen die größten italienischen und französischen Errungenschaften des 18. Jahrhunderts abkupferten und sie zu einem neuen, höchst raffinierten Stil verschmolzen“ … und nebenbei die Eremitage mit niederländischen Meisterwerken des 17. Jahrhunderts ausstaffierten, wie ich ergänze. Dem russischen Geschmack sehr entsprochen hätte zum Beispiel Rubens’ „Christusknabe mit dem kindlichen Johannes dem Täufer“ bei der letzten Dorotheum-Auktion, meint Vandelli. „Es ist ein Werk von größter Anmut und verkörpert alles, wofür Rubens steht. Wie fein die Hände und Gesichtszüge herausgearbeitet sind; die Darstellung der Figuren in Relation zum Hintergrund … Wir sehen hier ein Höchstmaß an Eleganz und Finesse!“

Kunst und Kontext

Die Frage nach seinen drei bevorzugten Alten Meistern kann oder will der Influencer so nicht beantworten: „Jeder große zeitgenössische Künstler – ob Jeff Koons, George Condo oder wer auch immer – ist zwangsläufig von der Kunstgeschichte und den Alten Meistern beeinflusst, weil Kunst in ihrem Wesen evolutionär ist; sie entsteht niemals aus dem Nichts. Ich hätte Franckens Bild gerne gehabt, weil es mich an seine von Ovids ‚Metamorphosen‘ inspirierten Höllendarstellungen und an Dantes ‚Inferno‘ erinnert. Und so geht die Reise immer weiter. Mir gefielen zum Beispiel auch Lo Spadinos anthropomorphische Darstellungen der ‚Vier Jahreszeiten‘, die 2017 verkauft wurden. Jemand mit Geschmack und Humor kann an den wunderbar verspielten Bildern nur Gefallen finden. Sie sind extrem dekorativ, lustvoll originell und ganz und gar zeitlos. Eine der vier Arbeiten – die mit den Granatäpfeln – ist auf ihre bacchantische Art besonders elegant. Ich kaufe generell gerne Bildpaare, aber eine Serie von vier Arbeiten ist noch viel aufregender, weil man ein ganzes Narrativ um die Bilder bauen kann. Das macht sie zum Beispiel ideal für den Speiseraum, wie ich finde.“ Dann schreitet Vandelli zur gegenüberliegenden Wand, hängt ein Werk des Seicento ab und stellt es ganz beiläufig zwischen die mit goldener Damastseide bezogenen Sessel und Poufs, auf denen wir sitzen. „Ich besitze viele Dinge, die ursprünglich vielleicht für Kirchen und private Kapellen gedacht waren, obwohl ich sicher kein Fußsoldat der Gegenreformation bin. Dieses Bild des Evangelisten Johannes stammt von einem Maler der Emilianischen Schule. Es hing früher in meiner Mahagoni-Bibliothek, weil sich der scharlachrote Umhang des heiligen Johannes sehr gut neben den roten Ledereinbänden machte. Ein Sammler ist also keineswegs immer nur von der Ikonografie eines Werks gebannt. Manchmal bekommt ein Bild eine neue Bedeutung, wenn man es aus seinem ursprünglichen Kontext herauslöst und in einen neuen setzt. Genau deshalb macht es mehr Spaß, Kunst zu besitzen, als sie lediglich im Museum zu bewundern.“

Sigmund Oakeshott ist im Dorotheum London als Kunsthistoriker tätig.

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