Raphaela Edelbauer – Das Begräbnis oder: Hommage an Auguste Bolte

„Femininum im Watschen, Wodans Zellatmung, DANKE!“ Für die aktuelle Ausgabe unserer Literaturserie lässt sich die österreichische Schriftstellerin Raphaela Edelbauer von einer Collage des deutschen Sprach-Künstlers und Aktionisten Kurt Schwitters, Schöpfer der dadaistischen „Ursonate“, inspirieren. Folgen wir der Autorin auf den Wiener Zentralfriedhof.

Es war ein windiger Tag. Frau Ing. Rosemarie Fisole musste eine Totenrede für ihre beste Freundin Frau Henriette Maria Geigensait (Gott hab’ sie selig) halten, die leider den letzten Montag im Herrn entschlafen war. 15 Angehörige mütterlicherseits und 15 Angehörige väterlicherseits hatten sich in einem marmornen Rhombus auf dem Wiener Zentralfriedhof zur Aufbahrung eingefunden. Da nun Frau Rosemarie wusste, was sich gehörte, schüttelte sie allen 30 der Eingefundenen dem Verwandtschaftsgrad nach die Hände. Sie puderte sich die Nase, da der Uhrzeiger sich der zwölften Stunde näherte und einer solchen Trauerrede unmöglich mit ungepuderter Nase begegnet werden konnte. Frau Ing. Rosemarie Fisole war eine geschmackvolle Frau. Als das Ave-Maria von Herrn André Rieu und dem Johann-Strauß-Orchester aus den Boxen heraus gespielt wurde, setzte sie sich hinter die enge Familie, jedoch vor die Arbeitskolleginnen der Frau Geigensait, was ihr als guter Freundin gewissermaßen zustand. Da entdeckte sie links neben sich eine Cousine Geigensait und erschrak: Cousinen ersten Grades vor guten Freundinnen, dachte sie und orderte mit gestrengem Flüstern die Geigensaiterin nach vorne. So hatte alles seine Ordnung. Frau Ing. Fisole war eine geschmackvolle Frau und saß mit entsprechendem Gesichtsausdruck das Händel-Hallelujah aus, dann die Rede des mit dem Sarg gekauften Diakons, ein Lied des liebsten Geigensaitensängers Ambros Wolfgang, eine durchschluchzte Rede der Tochter und noch ein Lied des liebsten Geigensaitensängers Ambros Wolfgang, ehe die Reihe endlich an ihr war.

Geistesgegenwärtig nahm Frau Fisole ihre durch ein sehr sorgfältiges selbsterfundenes Farbsystem geordneten Handkarten und beschritt mit dem Anlass entsprechenden Schritten das Podest.

„Herzliche Trauerweiden, liebende Geschwobene, verkirrte Animalien, die sich im Andenken an unser aller Mutter, Tante, Freundin, Tochter – Exfrau, Nichte, Vetterin –“, begann sie und zählte mit den Augen ab, ob sie keine anverwandte Geigensaite vergessen habe, „Schwägerin, Bekannte, Kollegin, Cousine – Enkelin, Base, Schwiegermutter, Freundin –“

Es traf die Ingenieurin fast der Schlag, als die Türe aufschwang und eine Gruppe Trauernder sich selbst nachreichte. Draußen stürmte es. Es war ein windiger Tag. Aber ein solches Ereignis konnte eine Fisole nicht aus der Fassung bringen. Sie improvisierte die Hinzugekommenen einfach nach: „einst Verlobte, Urgroßnichte, Muhme, Schwester, Großschwiegertochter, Schwippschwägerin –“

Es durchfuhr die Ingenieurin wie der Blitz, als in diesem Moment die Türe sich erneut eröffnete und zehn weitere Nachzügler sich hineinbeeilten. Doch sie war eine geschmackvolle Frau und würde auf keinen Fall auch nur einen von ihnen vergessen:„Leumündin, Urururururururururenkelin irgendeines Homo-Habilis, vollkommen Fremde – Zofe einer Katze, die Frau da drüben in der U-Bahn, Gattin, Kundin eines Steuerberaters, gern gesehenes Gesicht im Billa auf der Wienzeile“ – sie schnappte nach Luft – „versammelt haben.“ Der Fisoleningenieurin fiel ein Stein vom Herzen, da sie nun wirklich allen Anwesenden entsprochen hatte. Sie hielt schon ihr Organ bereit, um zur eigentlichen Trauerrede fortzuschreiten, da schoss ein junger Herr in der hinteren Reihe in die Höhe. Sogleich erkannte Ing. Rosemarie ihren Fauxpas, denn sie hatte eben doch den Stiefbruder der Enkelin Geigensait vergessen, der jedoch schon mit ca. vier Pferdestärken vom Saale fortstrebte und die Türe aufriss, in die eine ungeheure Windhose sich hineinverirrte. Es war ein nur kurzer Augenblick, doch der eigentlich geschmackvollen Ing. Rosemarie Fisole wurden von einer ehrgeizigen Bö die Handkarten aus den Armen getragen. Bar ihrer thematischen und farblichen Sortierung lagen sie zur Linken und Rechten der Bühne und hatten jede Reihenfolge aufgegeben. Jetzt hieß es Ruhe bewahren, sagte sich Ing. Fisole und beschloss, die Zeit, bis ihr eine Lösung für diese Misslichkeit einfiel, mit einer möglichst allgemeinen Einleitung zu überbrücken.

Kurt Schwitters, c 71 Fallende Papierstücke, 1946 Assemblage, Öl, Pappe, Papier, Holz auf Holz, 33 x 28 cm, Schätzwert € 150.000 – 200.000
Kurt Schwitters, c 71 Fallende Papierstücke, 1946 Assemblage, Öl, Pappe, Papier, Holz auf Holz, 33 x 28 cm, Schätzwert € 150.000 – 200.000

„Es gibt einen Mythos aus dem alten Finnland, der erzählt, dass nachts die Hefe lebendig wird und Beine bekommt – und dass diese Hefe, die mit Geschwindigkeiten von bis zu 20 km/h geht, so schnell sie kann, zum Mehle eilt. Den Teig, der aus diesem mystischen Vorgang entsteht, nennt man Kolmivaihekilowattituntimittari und er wird neugierigen Menschen, denen die Augen vom Schauen weh tun, auf die Lider gelegt.“ Die Fisoleningenieurin bemerkte an den Gesichtern der Trauergäste sogleich sachgemäß, dass sie sich mit dieser Darlegung keine Freunde gemacht hatte. Eine andere Strategie musste her. Sie würde ihrer Karten bedürfen, nur lagen diese verwirrt und ohne Reihenfolge verstreut. Aber eine solche Hürde konnte eine Fisole nicht abhalten.

Links waren drei Karten und rechts waren drei Karten zu liegen gekommen – und weil also die Wahrscheinlichkeit für jede ein Sechstel betrug, dass sie die Erste sei, beschloss Ing. Fisole, die Risiken zu verteilen. Sie würde von jeder davon jeweils den ersten Satz lesen und dann zur nächsten rennen – das war deppensicher.

„Ihre Krankheit hat sie sich nicht anmerken lassen. Und ihre Kegelbrüder und -schwestern beim KC Rodham fanden in ihr eine lustige Kollegin. Sie war fünf Jahre alt und ich sechs. Da hatte sie ihren ersten Sohn Geigensait Hermann. Für alle Schwierigkeiten hattest du eine Lösung parat. Ich möchte eine ganz kurze Geschichte erzählen.“

Derweil hatte sich im Publikum ein gewisser Zweifel darüber eingestellt, ob dies die geeignete Rede wäre, um ihre jeweils geliebte Frau Henriette Maria Geigensait (Gott hab’ sie selig) im Herrn zu ehren. Frau Fisole bemerkte dies. Ihr fiel schmerzlich ein, dass sie ihre Aktien noch nicht genug verteilt hatte und dass es noch sicherer wäre, jeweils nur ein Wort jeder Karte zu lesen und dann zur nächsten zu schnalzen. Wie in einem militärischen Pendellauf schnellte sie hin und her.

„Enkelkinder traurig Erinnerungen dankbar hatten Bibel. Menschenjahre reisen Welt Hühnerstall heraus. Thornton Wilder gelacht Psalm 23.“

Nun war lautes Husten, Räuspern und Kutzen vonseiten der väterlichen und mütterlichen Angehörigen zu vernehmen, aber Frau Fisole sah ihre Freundinnenpflicht noch nicht als erledigt an. In höchstem Pflichtbewusstsein war das einzige Problem der Frau Ingenieur, dass ihre Augen, von denen sie die Brillen längst verloren hatte, die Worte in dieser Geschwindigkeit nicht mehr zu identifizieren wussten.

„Nanga Parbat Luder in unserem Leberkäse, Kreidefelsen ruhmloser Loskauf“, schrie sie, als ginge es ihr ans nackte Leben, „Femininum im Watschen, Wodans Zellatmung, DANKE!“ Sie hatte also doch die richtige Lösung gewählt, dachte Frau Fisole erleichtert und schritt würdevoll vom Podest herab; und weil sie gar so gerannt war, das heißt alles zuletzt sehr schnell ging, klatschten alle 40 Angehörigen vor Überrumpelung einen braven Applaus herunter. Die Handkarten aber blieben am Boden liegen, bis die schön angezogenen Pompfüneberer in die Halle kamen und die sterblichen Überreste der Frau Geigensait (Gott hab’ sie selig) abholten.

Zur Autorin

© Apollonia Bitzan

 

Raphaela Edelbauer zählt zu den bedeutendsten Stimmen der jüngeren deutschsprachigen Literatur. Sie wurde 1990 in Wien geboren und studierte Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst. Für ihr Erstlingswerk „Entdecker“ wurde sie 2018 mit dem Rauriser Literaturpreis ausgezeichnet, vergeben für das beste deutschsprachige Prosadebüt. Zahlreiche Auszeichnungen folgten, unter anderem der Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2018, der Theodor-Körner-Preis 2019 oder der Österreichische Buchpreis 2021 für ihren Roman „DAVE“. Ihr neuer Roman „Die Inkommensurablen“ über den Ersten Weltkrieg ist für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert.

AUKTION

Moderne, 28. November 2023, 18 Uhr
Palais Dorotheum, Dorotheergasse 17, 1010 Wien

20c.paintings@dorotheum.at
Tel. +43-1-515 60-358, 386

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