Ana Marwan: Auf der anderen Seite

Portrait von Ana Marwan und Gemälde "Neugierde" von Eugen von Blaas

Auch für diese Ausgabe des Dorotheum myART MAGAZINE ließ sich wieder eine Schriftstellerin von einem im Dorotheum angebotenen Gemälde inspirieren. Diesmal: Ana Marwan mit einem Gemälde des Künstlers Eugen von Blaas! Man soll Mauern aufstellen. Weil. Sobald eine Mauer aufgestellt ist, findet sich jemand, der über den Rand schauen möchte. Denn. Es ist wichtig, über den Rand zu schauen.

Eugen von Blaas (1843–1931), Die Neugierige, 1897, Öl auf Leinwand, 145 x 75 cm, Schätzwert € 120.000 – 160.000
Eugen von Blaas (1843–1931), Die Neugierige, 1897, Öl auf Leinwand, 145 x 75 cm, Schätzwert € 120.000 – 160.000

Im Paradies gab es keine Mauern, das Paradies war mauerlos. Gott schuf und schuf, er sah, dass es bei Gott nicht reichte … zu schaffen, der Mensch verlor bald das Interesse daran, also schuf Gott weiter, immer kreativer wurde er, dreißigtausend Käferarten und drei Millionen Arten Pilze, und dann dachte er an die Unzugänglichkeit, die die Neugier wecken sollte, bevor er an das Verbot dachte, dachte er an die Unzugänglichkeit und schuf in den Meerestiefen, in der tiefsten Dunkelheit schuf er einen Fisch und gab ihm eine Stirnlampe, nicht so sehr, damit dieser sah, sondern damit er gesehen werden konnte, der komische Fisch.

Doch die zwei Menschen lagen weiter unter dem Baum, nicht wissend, dass es in der dunkelsten Tiefe unter der Oberfläche etwas gab, was zu entdecken wäre. Die Wasseroberfläche war nicht Mauer genug. Zu nachgiebig, zu transparent.
Der erste erfolgreiche Prototyp einer Mauer war also letztendlich das Verbot. Die Neugier war geschaffen, und sie war gut.
Ohne Mauer keine Neugier, ohne Neugier … Stillstand. Dass wir gerade stillstehende Mauern brauchen, um dem Stillstand vorzubeugen, soll uns nicht überraschen, wir hätten mittlerweile lernen sollen, dass alles in sich widersprüchlich ist, sein muss, wenn es in ein und demselben Urknall entstanden ist.
So. Wenn einem so die ganze Freiheit überlassen wird, wird man faul — das hat man im Paradies, im Beta-Environment ausreichend getestet. Erst mit dem Einschränken der Freiheit werden Dinge in Gang gesetzt. Jedermann strebt nach Freiheit, aber das Endstadium ist wie bei den Äpfeln: Faulheit. Das wollen wir indes verdrängen. Dass wir zersetzt werden. Da Faulheit kein erstrebenswerter Zustand ist, darf die komplette Freiheit nur im Wunsche, nicht aber im Konkreten bestehen. Im Konkreten darf nur die Mauer bestehen. Eine Mauer muss man als konkrete Festung gegen die Faulheit sehen. Wenn die Mauer aus Beton ist, dann heißt auf Englisch beides, vielsagend, concrete.
Was noch zu betonen wäre: die Gesellschaft. Allein hat man Angst, erst ab zweien siegt die Neugier über die Angst. Adam allein hätte nie in den verbotenen Apfel gebissen, Eva auch nicht. Eva brauchte die Schlange, um von Angst zu Neugier überzugehen, Adam brauchte Eva.

Eugen von Blaas (1843–1931), Die Neugierige, 1897, Detail Blick über MauerAuch Gott schuf zuerst die Gesellschaft, dann erst die Einschränkung, er wusste das alles. Und so haben wir letztendlich auch seinen verborgenen Fisch gefunden. Man brauchte nur ein wenig Zeit.
Selten ist man also allein mutig, zu zweit ist man aber gerne gleich übermütig. Was bringt es einem, über den Rand zu schauen, wenn man niemandem davon berichten kann, was man auf der anderen Seite gesehen hat? Wenn man niemanden hat, der die Leiter hält und dabei kichert?
Das ist eine schöne Neugier, eine kichernde. Will sagen: Das ist eine Neugier, die schön ist. Viele Abstufungen der Neugier gibt es, so viele Arten gibt es, fast wie bei den Pilzen. Die vorletzte ist die Mutter der Entdeckung. Absteckend: Die erste bringt zum Kichern, die letzte vertreibt aus dem Paradies.
Was sie gemein haben, all die Neugierden: Das Gefundene, … das Gesehene … muss erzählt werden. Geteilt werden. Gott sei Dank, denn …
Ist es nicht das Unerträglichste, jemandem zuzusehen, wie er etwas sieht, was wir nicht sehen?
Gibt es etwas, was man mehr hören möchte als das, was nicht gesagt werden möchte?
Gibt es einen Sporn, der die Phantasie mehr zum Rasen bringt? Tausend Vorstellungen werden in uns geweckt! Zehntausend! Und auch wenn es hunderttausend sind, keine Einzige wird mit der Rea- lität übereinstimmen! Auch das ist etwas, was uns rasend macht.
Ich hatte kleine Hasen, die ich eingezäunt habe, damit der Mader sie nicht holt. Innerhalb des Zauns waren Wiese und Himmel, außerhalb des Zauns waren Mader und Mäusebussard. Trotzdem. Hasen werden wie Magnete zum Zaun hingezogen, egal, wo ein Zaun ist, finden sie ihn und wollen nur noch auf die andere Seite, koste es, was es wolle. Denn. Jedes Paradies will verlassen werden.
Ich habe ein kleines Mädchen dabei beobachtet, wie es mit seinen kleinen Krallen ein Hasenbild zerkratzte. Der Hase auf dem Bild saß, bevor er zerkratzt wurde, auf seinem weißen Schwänzchen da und schaute in die Ferne. Ich fragte, warum es das gemacht hatte.
„Magst du keine Hasen?“, habe ich gefragt. Und es: „schon“, aber es wollte sehen, wie er von vorne ausschaut.

Eugen von Blaas (1843–1931), Die Neugierige, 1897, Detail Füße

Ach, die andere Seite der Dinge. Immer grüner als die, die sie uns zeigen. Kein Zimmer meiner Kindheit, und wenn ich meine Kindheit sage, meine ich unsere, kein Zimmer war so anziehend wie dasjenige, dessen Tür verschlossen war. „Geh da nicht hinein!“ Der schlechteste Befehl in der jungen Welt.

Ich war/Wir waren mal in der pubertierenden Welt mit unserer besten Freundin auf einer Reise. Gemeinschaftszimmer. Auf dem Bett einer anderen Freundin von uns lag eines Tages ein Brief, das Kuvert noch nicht zugeklebt. Unsere beste Freundin las ihn einfach. Passte dabei auf, den Brief wieder so zurückzulegen, wie er davor gelegen war. Wäre sie von dieser anderen Freundin gebeten worden, ihren Brief zu lesen, hätte sie mit ihren Augen gerollt, unsere beste Freundin, und gemeint, was das solle, sie könne nicht ständig ihre Liebesbriefe überprüfen, das wäre doch langweilig so auf die Dauer, man müsse nicht alles mitteilen, warum hielte sie nicht einmal die Klappe, diese andere Freundin, so eine Egomanin, unsere andere Freundin.

Eugen von Blaas (1843–1931), Die Neugierige, 1897, Detail Blick nach obenDas wissen wir ja alle. Wenn jemand mitten im Satz aufhört, nicht weiterwill, „Ach, vergiss es …“, wachen wir aus unserer Abstumpfung auf, das Reden ist kein Hintergrundgeräusch mehr, die Stille sticht: „Das kannst du doch nicht machen, das macht man nicht, wenn man anfängt, muss man zu Ende …“ und sogar: „Das ist unfair.“ Und dann, nachdem alles fertig erzählt worden ist: „Ach so, das. Ja. Eh.“

Ach, das Ungehörte. Das Ungesehene. Auch Kolumbus wollte auf die andere Seite der Erde und Buzz Aldrin auf die andere Seite des Mondes, dieses Mondes, der uns bekanntlich immer nur die eine Seite der Münze, die er ist, zeigt. Buzz nahm Armstrong mit. Zu zweit besiegt die Neugier die Angst.

Aber Amerika hat seine Wüsten und Meere, so wie der Mond auch. Der Sporn wurde zu Staub und Sand.

Was sieht man, wenn man über die Mauer schaut? Was sieht eine junge Frau, die drüber schaut?

Keine Landschaft kann mit dieser Frage mithalten.

Das Einzige, was noch mehr reizen würde (wie urknallig schön sich die Gegensätze in der Doppeldeutigkeit des Wortes „reizen“ vereinen!), also das Einzige, was noch mehr reizen würde, wäre, dieses Bild verkehrt aufzuhängen.

Da wäre aber der Zeigefinger der Kreation verloren gegangen, die menschliche Hand, und die ist erst das, was aus Neugier Kunst macht.

Zur Autorin

Ana MarwanDie slowenisch-österreichische Schriftstellerin Ana Marwan, Jahrgang 1980, lebt nach dem Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft und der Romanistik als freie Autorin in Wien. Sie schreibt Kurzgeschichten, Romane und Gedichte auf Deutsch und Slowenisch. Seit dem heurigen Jahr ist Marwan Mitherausgeberin und Chefredakteurin der Literaturzeitschrift „Literatur und Kritik“. 2019 debütierte sie mit „Der Kreis des Weberknechts“. Große Aufmerksamkeit verlieh ihr der Gewinn des Ingeborg-Bachmann-Preises 2022 mit dem Text „Wechselkröte/Krota“. Im Februar 2023 erschien Marwans neuer Roman „Verpuppt“ im Otto Müller Verlag; das Original „Zabubljena“ wurde mit dem Kritiško sito 2022 für das beste Buch des Jahres 2021 in Slowenien ausgezeichnet.

AUKTION

Gemälde des 19. Jahrhunderts, 2. Mai 2023, 18 Uhr
Palais Dorotheum, Dorotheergasse 17, 1010 Wien

19.jahrhundert@dorotheum.at
Tel. +43-1-515 60-355, 765, 501

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