Tony Cragg: Material und Materie

Tony Cragg © Alexia Antsakli Vardinoyanni www.artflyer.net

Zwischen „Glauben“ und Wissenschaft: ein flammendes Plädoyer für die Bildhauerei. Mit dem Dorotheum myART MAGAZINE sprach Tony Cragg über innere Strukturen, über Wahrnehmungsebenen und magische Momente. Anlass war die vom Dorotheum gesponserte große Ausstellung in Houghton Hall.

 

Dorotheum myART MAGAZINE: Sie haben in Houghton Hall, im Boboli-Garten in Florenz und im Yorkshire Sculpture Park ihre Skulpturen platziert und inszeniert. Wie gehen Sie grundsätzlich an historische Bauten und Gärten heran?

Tony Cragg: Zunächst müssen die Skulpturen draußen bestehen können – das bestimmt schon einmal die Materialauswahl. Und sie müssen eine gewisse Größe haben. Wenn es sich um eine Gruppe handelt, sollten sie einen sinnvollen Zusammenhang ergeben, um einen Themenbereich kreisen.

Was wären solche Themen?

Unsere Beziehung zur Natur. Überhaupt steht etwas, was Menschen herstellen, in Bezug zur natürlichen Umgebung. Die Natur bringt seit Millionen von Jahren wunderbar komplizierte Arbeiten hervor … eine Diversität, die mich fasziniert! Wir hingegen schaffen nicht gerade plumpe, aber simple, repetitive, leicht zu reproduzierende Formen, die auf einfachen Geometrien basieren.

Zwischen natürlicher und vom Menschen geschaffener Welt: Industrial Nature, Photo: Michael Richter
Zwischen natürlicher und
vom Menschen geschaffener Welt: Industrial Nature, Photo: Michael Richter

Nehmen Sie darauf auch in „Industrial Nature“, einem Ihrer Skulpturentitel, Bezug?

Genau. Hier gehen die Formen von einer zentralen, tragenden Struktur aus und entfalten sich unterschiedlich – wie eine Vegetation.

Wieso sind Sie nicht Biologe geworden, sondern Bildhauer?

Die Bildhauerei ist eine extrem wichtige Disziplin, weil sie eine von wenigen ist, in denen Menschen neue Formen kreieren. Rationalisierte, industrialisierte Formen können wir ja gut herstellen. Doch die Bildhauerei geht in die andere Richtung: Sie sucht, was nicht unbedingt nützlich ist, zeigt uns aber auf, wie viele andere Möglichkeiten die Form birgt.

Auch Computerprogramme schaffen neue Formen. Viele Ihrer Arbeiten sind von einer unglaublichen digitalen Ästhetik, es gibt kaum Anhaltspunkte. Sie wirken visionär.

Was meine frühen Arbeiten, die „Early Forms“ oder „Points of View“, betrifft, wurde ich später immer wieder gefragt, mit welchem Programm ich sie gemacht habe, obwohl so etwas damals noch gar nicht existierte. Der Grund für diese Annahme liegt darin, dass meine Skulpturen eine innere Struktur haben – von einfachen elliptischen bis zu komplizierten Formen. Diese wiederhole ich, und daraus ergibt sich eine unsere Wahrnehmung strapazierende Komplexität. 

Tony Cragg at Houghton Hall in Norfolk. Photo: Jeff Spicer/PA Wire
Tony Cragg at Houghton Hall in Norfolk. Photo: Jeff Spicer/PA Wire

Sie generieren ein riesiges Formenspektrum. Manche Objekte wirken gestapelt, verzerrt oder verknotet, manches wird durchlöchert oder aufgefaltet. Dazu kommt eine große Variation an Materialien. Womit beginnen Sie?

Mit Bleistiftzeichnungen. Die Arbeiten entwickeln sich in einem Prozess, sowohl formal als auch inhaltlich. Es ist eine laufende Kette von Entscheidungen, von denen manche wichtig sind. Da merke ich: Wäre ich anders weitergegangen, hätte ich eine ganz andere Form geschaffen. Wenn man dem über einen langen Zeitraum nachgeht – ich mache das seit 50 Jahren –, dann verselbständigen sich die Skulpturen einfach. Es ist für mich immer wieder aufregend und überraschend, etwas Neues zu schaffen, nicht nur formal, sondern auch in seiner Bedeutung.

Welche Themen gibt es noch?

Das, was man sehen, und das, was man nicht sehen kann. Das Sichtbare, das Unsichtbare. Ich meine das so: Wir haben eine bestimmte Wahrnehmung. Diese vermeintliche Wahrnehmung ist konditioniert durch die Kultur, in der wir existieren. Die Konditionierung – ein sehr wichtiges Thema – findet man nicht nur in der Politik, sondern überall in der Gesellschaft. Aus der Wahrnehmung resultieren gewisse Erwartungen, ein Glauben etc. Man kann dies alles in ein neues Licht rücken, wenn man mit neuen Formen konfrontiert wird. Bildhauerei und Kunst sind eine Art und Weise, innere Strukturen sichtbar zu machen.  

Zeigen sich diese Phänomene in Ihrer Beziehung zur Natur?

Nicht unbedingt. Das Ökologische ist wichtig für die reale Welt, Stichwort: Weltverbesserung, ansonsten jedoch nicht sehr spannend. Aber an der Wahrnehmung zu arbeiten, das ist vielleicht eine sehr wichtige Sache.

Tony Cragg at Houghton Hall in Norfolk. Photo: Jeff Spicer/PA Wire
Tony Cragg at Houghton Hall in Norfolk.
Photo: Jeff Spicer/PA Wire

Im Sinne von: Orte aufladen, ihnen eine neue Wertigkeit geben? Manchmal scheinen Ihre Arbeiten wie eine Visualisierung physikalischer Kräfte, die wir noch nicht kennen, vergleichbar etwa mit den erst kürzlich nachgewiesenen Gravitationswellen. Viele Kunstschaffende haben ja Phänomene eben nicht auf wissenschaftlicher Ebene vorausgesehen, wie z. B. die Malerei die Computerpixel-Ästhetik.

Auf jeden Fall. 

Vielleicht führen Sie heute vor, was Menschen in 100 Jahren sofort verstehen würden?

Das ist mir jetzt doch ein bisschen zu mystisch. (Lacht.) Die Wissenschaft diktiert unseren Alltag stark: die Formen, die uns umgeben, unsere Gesundheit. Aber die Wissenschaft bedeutet gar nichts, ohne dass uns jemand zeigt, was es wert ist. Auch vor hunderten Jahren existierte eine Art von Forschung über die Beschaffenheit der Realität. Aber die Menschen an sich haben sich nicht groß verändert seither … leider!

Wenn das zunehmende Wissen nicht das ist, was die Menschen weiterbringt: was dann?

Nur die Kunst zeigt uns, was etwas wert ist, was es für uns bedeutet.
Bestenfalls ergibt es auch einen gewissen Sinn. Das ist ebenfalls ein wichtiges Thema in der Bildhauerei.

Inwiefern?

Wir wissen viel, aber im Vergleich zu dem, was es zu wissen gilt, nur wenig. Und alles, was wir nicht verstehen, füllen wir mit Glauben aus. Das ist eines der größten Probleme unserer Zeit: dass Glauben – und damit meine ich nicht im Besonderen
die Religion – immer noch eine stärkere Kraft ist als die Wissenschaft. Das merkt man in der Politik und in den formalisierten Religionen. Corona führt dies derzeit par excel-
lence vor … Und das ist das Phantastische an der Bildhauerei: Sie zeigt, wie unglaublich reich mein Gefühl, mein „Glauben“ ist, wenn man so will. Alles, was ich sehe, ist nur ein Bruchteil der Realität. Unfassbar, dass wir, gefangen von unserer Wahrnehmung, nicht einmal im Ansatz erkennen, was eigentlich los ist. Und wir nehmen uns so wichtig dabei … Wir haben reflektierendeIntelligenz, schweben zwischen extrem wichtig und extrem
verschwindend. Man muss sich in dieser Spannung in einem Zwischenbereich finden, sonst wird man verrückt.

Was bedeutet Material für Sie? 

Vor 150 Jahren gab es noch wenig Material für die Bildhauerei, außer den klassischen Dingen wie Stein, Marmor, Bronze oder Holz. Heute ist alles Material – das ist eine wesentliche Veränderung. Bildhauerei ist nicht mehr nur eine reine Abbildungsstrategie. Sie ist vielmehr per se zur Studie des Materials geworden. DNA, die Atmosphäre, Klima, menschliche Psychologie: Das ist alles Bildhauerei. Ich bin in diesem Sinn Materialist – Intelligenz und Emotionen sind Material. 

Wie gehen Sie in Ihrer Arbeit diesbezüglich vor?

Meist gehe ich von einem Material aus, und das gibt vor, was gemacht werden kann. Ich bin manchmal überrascht darüber, welch unterschiedliches Gefühl und welch andere Bedeutung unterschiedliche Materialen für ein und dieselbe Sache hervorbringen. Aber die Kernaussage bleibt: Man kann es mit dem Spielen desselben Musikstückes auf zwei unterschiedlichen Instrumenten vergleichen. 

Womit beschäftigen Sie sich zurzeit?

Ich habe in jüngster Zeit sehr viel mit Glas gearbeitet, auch für Houghton Hall. Glas ist eine Flüssigkeit, bildet an der Oberfläche eigene Formen, Tropfen, Kugeln, Strähnen. Das Glas formt sich selbst in der Hand – das ist immer ein magischer Moment mit dem Material. Es ist ähnlich wie beim Zeichnen mit dem
Bleistift: Graphit auf dem Zellstoff bestimmt manchmal mehr,
als man selbst zugibt.

Das Gespräch führte Doris Krumpl, Pressesprecherin des Dorotheum.

Tony Cragg Photo: Charles Duprat
Photo: Charles Duprat

Tony Cragg,

eigentlich Sir Anthony Douglas Cragg, ist einer der einflussreichsten und bedeutendsten Bildhauer der Gegenwart. 1949 in Liverpool geboren, studierte Cragg unter anderem am Royal College of Art in London. Nach dem Studium und ersten Ausstellungen übersiedelte der Künstler 1977 nach Wuppertal, Deutschland. Seine frühen Arbeiten machten vor allem farbige Assemblagen aus gefundenen Materialien aus. Vor dem Hintergrund von Land Art, Arte Povera und Minimal Art schuf er singuläre biomorph-abstrakte Skulpturen. 1982 und 1987 stellte Cragg bei der documenta aus, 1986 und 1993 nahm er an der Biennale Venedig teil. Von 1988 bis 2014 hatte der Turner-Preisträger von 1988 eine Professur an der Kunstakademie Düsseldorf inne, ab 2009 war er deren Rektor.

Legendär sind Craggs Inszenierungen von Natur und Skulptur. Speziell verwirklichen kann er diese im Skulpturengarten Waldfrieden, einem vom Bildhauer
2006 erworbenen und umgestalteten öffentlich zugänglichen Park mit Villa bei Wuppertal. Spektakuläre künstlerische Dialoge inszenierte Tony Cragg unter anderem 2019 im Boboli-Garten in Florenz und heuer in einer – vom Dorotheum unterstützten – Schau auf dem Anwesen von Houghton Hall, Norfolk (GB).

Weitere spannende Artikel finden Sie im Dorotheum myART MAGAZINE!

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