In memoriam Helena Adler

Für die 20. Ausgabe des Dorotheum myART MAGAZINE ließ sich die herausragende österreichische Autorin Helena Adler, die am 5. Januar 2024 viel zu früh verstorben ist,  von einem im Dorotheum angebotenen Gemälde inspirieren. Ausgehend von Markus Pernharts Gebirgsdarstellung ließ sich die zwei mal für den Österreichischen Buchpreis nominierte Autorin den Großglockner, Österreichs höchsten Berg mit schwindendem Gletscher, selbst zu Wort kommen. Der Berg ruft nicht nur. Er schreit, er appelliert. Um bei zumindest einem Wesen unten am Meer Gehör zu finden.

Markus Pernhart (1824–1871), Der Großglockner, Öl auf Leinwand, 23,5 x 29 cm, Schätzwert € 30.000 – 50.000
Markus Pernhart (1824–1871), Der Großglockner, Öl auf Leinwand, 23,5 x 29 cm, Schätzwert € 30.000 – 50.000

Schnee von gestern

Was wisst ihr denn von morgen, wenn ihr im Schnee von gestern krepiert? Was wisst ihr vom Saharastaub, der sich seit Jahrmillionen in meinen Knochen ablagert? Was kann ich euch anderes erzählen als von meinem Heute und eurer Gegenwart in meiner Gegenwart. Mich fröstelts, ich fremdle. Ihr herbstelt. Meine Haut erhebt sich durch euch und euer Sediment. Sie ist dünn geworden, und ihr bewegt euch auf gefährlichem Büßereis. Ihr seid die Leiber, die mir über die Leber laufen, das lässliche Leid, das mir auf der Zunge liegt. Die Nähe zum Himmel hat mich hart gemacht. Ich schwitze im Edelweiß, bin gewandet wie er. Erdzugewandt. Mich dürstet es nach den Wanderdünen, mich zieht es nach Süden, nach Westen, das ewige Gesäuse in meinem Ohr und die geschmolzene Zeit. Die Brüder im Osten längst tot. 

Die Schwester begraben unterm Böhmerwald. Gletscherschmelze ist Götterschmerz! Schaut mich an, wenn ich euch von den Schlachten erzähle, in meinem Gesicht hunderte Gewitter absorbiert, ich hänge es an die große Glocke, damit jeder mein Läutern erhört. Die Bomben geschluckt, die Blitze gebunden. Meine Altersflechten fackeln gelb und orange. Jede Erinnerung ein Wetterleuchten. Mein Gedächtnis ein Geröllfeld, unter dem ihr zum Liegen kommt, meine Findlinge eure Grabsteine, eure Erbmasse mein Bergmassiv, meine Gletscherspalten eure Tiefseegräben, nichts zeugt von euch Zeugen in diesem stolpersteinernen Meer, außer mein Schwund, der euer Gerippe rausputzt. Wenn meine Hänge apern, zeigt sich Eppan. Alle Klettersteige bloß Holzwege in eine andere Ewigkeit. Massen, die mich treten, Trampelwege durch meinen Kopf, Wendeltreppen um die Gehirnwindungen, Höhenschwindel und Höllenlärm. Wolkenreste um meinen Schädel wie Gedankenfetzen an die Gestürzten. Ein Gelände ohne Geländer. Abstrakt mein Gebirgszug, verschwommen mein Gesichtsfeld. Romantisch mein Abbild in den Gemäldegalerien. So bin ich nicht. So war ich nie. So werde ich erst recht gehandelt. Vergesst das hässliche Aquarell, das Pathos der Maler. Grundiert eure Leinwände mit Lawinen! Nichts wisst ihr vom Phantomschmerz meiner Pasterze. Im Novembernebel bin ich aus den Fugen geraten, ihr kamt mir mit euren Wechselgesichtern zu nah. 

Die Baumgrenze unter meiner Gürtellinie, mein Grünschiefer unter euren hervorgekrochenen Fingerknochen, darüber der Firn. Verschüttet habe ich eure Massengräber und Mördergruben mit Gletschermilch. Das Loch in der Brust mit euren Erinnerungen gefüllt, den Nebel abgenabelt. Gestunken hat es nach angebrannter Milch, nach nassen Grubenhunden und frischem Aas, noch den Neuschnee habt ihr mir angeschwärzt. Ihr saht das Kreuz auf meinem Buckel und ihr saht, dass es leer war. Auferstehung heißt Erstbesteigung. Die Verwerfung war groß, ich brach mein Rückgrat entzwei, die Wirbelsäule gekrümmt, der Atlas unter der Altlast durchgebrochen, ein Zwiespalt von Wechten überdeckt, von Grollen unterwandert. 

Am Ende der Talsohle, über meiner Bettdecke erhebt sich ein zerrauftes Morgenrot, der Blutschnee um euer Mordlustmaul, Rot, Weiß, Schrot, das Trogtal als randvolle Menschentränke, doch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Verwerft euch! Häuft noch so viel Ahnen an, haltet es streng mit euren Zeremonien in dieser Buckligen Welt. Verdampft und verduftet. Ihr schmeckt metallisch wie eure Waffen. Das Wasser in euren Lungen gefroren und festgefahren. Schafft Zeitkapseln unter meiner Zeltkuppel. Sorgt für universale Sprachverständlichkeit. Füllt meine Wassertaschen mit eurem Blut und löscht das Abendrot. Sattelt die Gäule. Zügelt die Ungetiere der Gramgebeugten. Versammelt die Schlichten. 

Rüstet die Retter. Salbt die Suchenden. Vermisst die Vermissten und vermesst die Vermessenen. Sät Zwiespälte. Kreuzt auf! Bekniet die Geplagten. Mäht das Schlachtfeld. Zerreißt die Leinwand, nicht aber das Maul. Ihr wollt kein Schlechtreden gutheißen. Zerrüttet euer Haupt. Spaltet die Zunge. Kniet nieder. Verneigt euch vor den Eigenartigen. Begebt euch zur Adlersruh und leert die Kuckucksnester. Errichtet Türme aus euren Totenschädeln, erreicht den Himmel. Flutet die Höhlen und bringt die Hölle zu Fall. Nieder mit den Niederungen! Sputet euch, aber spurt nicht. Teert die Toten. Touchiert ihre Träume. Zählt die Affen. Zielt auf die Jäger. Blast das Teufelshorn. 

Benennt die Himmelskörper. Leert die Urnen. Vermischt eure Asche mit Meteoritenstaub. Salzt die Flüsse. Süßt den Schnee. Klärt den Nebel. Werft die Schatten aus. Holt die Netze ein. Setzt die Laubkronen auf. Baut Barrikaden aus Rettungsankern. Beutelt das Los. Löst euch vom Leid. Schält euch aus euren Leibern. Setzt aus. Versperrt die Häuser. Verlasst die Dörfer. Schließt die Gruben. Fliegt aus. Hört zu. Nehmt eure Kinder bei der Hand und beim Wort. Kämmt ihr Haar mit der Mondsichel, macht Häuptlinge aus ihnen. Fiebert mit und fiebert runter. Befeuert sie und lehrt sie fluchen. Nehmt eure Glasaugen unter die Lupe und rollt sie den Hang hinab. Verbrennt euch die Zungen! Durchbrecht eure Waagschalen. Nehmt den kleinen Finger, aber opfert die ganze Hand. Pflanzt goldene Lärchen über euren nussigen Leichen. Vertuscht euer Gift. Vertauscht eure Gesichter. Täuscht eure Mütter. Über den Dohlen weht eisiger Wind. Ihr seid lastenfrei und sorgenschwer. Sprengt die Serpentinen. Betoniert Kreuzwege. Hisst eure Herzen, beherzt euer Haupt, behebt eure Behäbigkeit. Erhebt euch! 

Du grenzt mich aus, ich grenz dich ein, der Schatten der Pinienhäupter am staubigen Boden, die schwarzen Äste und die hellen Sonnenzwischenräume wirr wie willkürliche Acrylspritzer masern den Erdgrund. Zugrunde gehen wir, aber du springst. Du springst von Schatten zu Schatten, weil man am Licht immer scheitert. Auf dem Bild dort Spuren im Schnee. Hier unten bloß Schritte im Sand. Gletschermilch dort oben, vor mir nur die Gischt. Dort hinten das Eis, unter unseren Füßen der Staub. Du schmilzt, ich schwitze. Wenn du nicht mehr bist, durchleuchtet es mich und es lichtet sich die Welt. Hier unten schmilzt das Eis und rinnt uns durch die Finger, dort oben tropfst du. 

Sandstürme und Wolkenbrüche, hier am Strand. Wir machen uns an die Muschelstiege, die sich einst zur Höhenstufe erhebt. Ein Lorraine Licht beleuchtet die Olivenbäume, die die Zikaden in den Zypressen beschatten. Meerschaum um den Muschelmund. Salz und Kerosin. Wir legen uns in den Sand und lagern hintereinander wie Muschelablagerungen. Das Land ist eine Anreicherung von Ablagerungen. Auf deinem dicken Bauch. Gespreizt und gegen die Sonne gestreckt, gewendet, möchte ich mich buckeln und buchten. Dein schier platzender Wanst meine Behausung. Beheb mich! 

Zur Autorin

Copyright: Eva trifft Fotografie
Copyright: Eva trifft Fotografie

Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg, ist eine der wesentlichen Stimmen der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Die Autorin und Künstlerin studierte Psychologie und Philosophie an der Universi-tät Salzburg sowie Malerei am Salzburger Mozarteum und debütierte 2018 mit dem Roman „Hertz 52“. Helena Adlers schwarzhumoriger, sprachkünstle-rischer Anti-Heimat-Roman „Die Infantin trägt den Scheitel links“ gelangte 2020 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises und auf die Shortlist des Österreichischen Buchpreises. Im August 2022 erschien im Verlag Jung und Jung ihr Roman „Fretten“, der für den Österreichischen Buchpreis 2022 nominiert wurde.

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