Egon Schiele: Die Selbstverständlichkeit des Daseins

Zu den Höhepunkten der Moderne-Auktion im November zählt ein Schiele-Blatt, das etwas Besonderes im OEuvre Schieles darstellt – nicht nur, weil es zu den wenigen Arbeiten gehört, die Max Wagner, Schieles wichtigster Archivar, erwerben konnte.

Egon Schiele, Stehendes Bauernmädchen mit Kopftuch, 1915, Bleistift auf Papier, 46 x 29,4 cm, Schätzwert € 140.000 – 200.000

Ganz still steht sie da. Der Körper ist leicht zur Seite gedreht, das Gesicht ganz im Profil, der Blick geradeaus gerichtet, konzentriert, aber ohne Ziel. Sie kommt vom Land, wie Kleid und Kopftuch verraten, und steht dem Künstler Modell. Wo er sie getroffen hat und woher sie stammt, wissen wir nicht. Furchtlos steht sie da, mit spürbarem Selbstbewusstsein. Lange wird die Sitzung nicht gedauert haben, man muss nur der Linie folgen, die so sicher, schnell und präzise, ohne richtige Unterbrechung die Kontur des Körpers erfasst. Messerscharf ist die Linie, aber weich und modellierend in den Rundungen. Die leichte Drehung positioniert das Mädchen im Raum, die freie Fläche in der rechten Bildhälfte verleiht der konzentrierten Ruhe etwas Leichtigkeit, ja Atem. Egon Schiele zeichnet dieses Mädchen 1915, in jenem Jahr, in dem er zum Militär einberufen wird. Da nur bedingt tauglich, entgeht er zwar dem Einsatz an der Front, aber die Waffenschulung in Prag und die Arbeiten in der Schreibstube eines russischen Kriegsgefangenenlagers belasten den sensiblen, nach Arbeit dürstenden Maler. Es ist folglich auch eines seiner am wenigsten produktiven Jahre, in dem er vor allem seine Frau Edith Harms, die er in diesem Jahr heiraten kann, als Modell und Muse wählt. Dazu kommen Porträts von Kunsthändlern, Soldaten und Kindern sowie Akte. In der Übersicht der Werke fällt dieses junge Mädchen mit dem Kopftuch besonders auf. Es dürfte dasselbe sein, das Schiele bereits 1914 porträtiert hatte und 1916 in spiegelverkehrter Ansicht wiederholen sollte. Vielleicht ist es das bemerkenswerte In-sich- Ruhen des Kindes, das den Maler so berührt, diese einfache Selbstverständlichkeit des Daseins, die  so konträr zu Schieles expressivekstatischen Körperdrehungen steht. Die Zeichnung erwirbt – ob als Geschenk oder Kauf, ist nicht bekannt – der Redakteur und engagierte Sozialpolitiker Max Wagner (1882–1954), dessen bedeutendste Leistung im Zusammentragen der umfangreichsten Sammlung an Dokumenten, Briefen und Autografen von und über Egon Schiele liegt. Sie kommt testamentarisch 1954 an die Albertina. Das vorliegende Blatt ist eine der wenigen Original-Zeichnungen, die Max Wagner erwerben kann; sie wird erst 1999 an einen Freund der Familie verkauft.

Zur Autorin: Marianne Hussl-Hörmann ist Expertin für Moderne Kunst im Dorotheum.

AUKTION

Moderne, 29. November 2022, 18:00 Uhr
Palais Dorotheum, Dorotheergasse 17, 1010 Wien

moderne@dorotheum.at
Tel. +43-1-515 60-358, 386

Blättern Sie durch unser aktuelles myART MAGAZINE!

No Comments Yet

Comments are closed




Auktions-Höhepunkte, Rekord-Preise und spannende Kunst-Geschichten. Mit dem Dorotheum Blog sind Sie immer am Puls des Auktionsgeschehens!


Archive