Hermann Nitsch: Kirchenmaler ohne Kirche

Hermann Nitsch, Splatter Painting, 1986, dispersion on burlap, 200 x 301 cm, estimate €100,000 – 200,000

Das früh international akklamierte, oft Kunstskandale provozierende Œeuvre des im Vorjahr 84-jährig verstorbenen Hermann Nitsch nimmt eine zentrale Stellung in der neueren österreichischen Kunst ein. Das spiegelt auch das große Sammlerinteresse daran wider. Immer wieder finden sich Werke Nitschs auch in Dorotheum-Auktionen Zeitgenössischer Kunst.

„Nitsch ist ein Anbeter alles Sinnlichen, lebensreligiöser Emphatiker, Pathetiker und Charmeur, philosophischer Kosmiker und zugleich tiefgläubiger Atheist“, steht in einem 2008 von Wolfgang Koch im Wieser Verlag herausgegebenen Zitateband des Meisters zu lesen. „Der ,Rubens der Asketen‘, wie ihn Günter Brus einmal nannte, verbindet sanfte Transzendenzträumerei mit einer kompro- misslosen Suche nach dem Urexzess“, heißt es da. Hermann Nitsch prägte die Kunstrichtung des Wiener Aktionismus mit. So ließ er sich etwa gemeinsam mit Adolf Frohner und Otto Muehl 1962 in einer spektakulären Aktion im Perinetkeller in Wien für drei Tage einmauern und am vierten Tag vom anwesenden Publikum feierlich befreien. Ein veritabler Skandal und gleichermaßen das Gründungsmanifest des Aktionismus, zu verstehen als ein Zeichen gegen die repressiven gesellschaftlichen Zustände jener Zeit. Nitsch wurde früh international wahrgenommen. Er nahm 1972 an der documenta 5 und 1982 an der documenta 7 teil. 2007 wurde das Nitsch Museum im niederösterreichischen Mistelbach eröffnet, seit 2008 gibt es das Museo Nitsch in Neapel.

Hermann Nitsch, Schüttbild, 1986, Dispersion auf Jute, 200 x 301 cm, Schätzwert € 100.000 – 200.000
Hermann Nitsch, Schüttbild, 1986, Dispersion auf Jute, 200 x 301 cm, Schätzwert € 100.000 – 200.000

Viele Werke des 1984 mit dem Österreichischen Kunstpreis für bildende Kunst Ausgezeichneten sind Relikte von Aktionen, die er nach einer strengen Partitur konzipierte und ausführte. Größere Aktionen, die sich über Tage erstrecken konnten, fanden vor allem im 1971 von der Familie Nitsch erworbenen Schloss Prinzendorf im niederösterreichischen Weinviertel statt. In Nitschs Bildern vermischen sich Dramatik und Gestik: Die in manchen Fällen zentral mit Aktions- oder Malhemd versehenen Bildobjekte des synästhetisch-gesamtkunstwerklich orientierten Meisters sind geschüttet, wovon Farbspuren zeugen. Gestische Handzeichen ziehen sich durch dick aufgetragene Farbe. Letztere ersetzt das in seinem Frühwerk verwendete rote (Opfer-) Blut. Ein Stoff, der dem Daseins- und Erlösungstechniker Nitsch helfen sollte, nach dem Seinstaumel des unter anderem an antiken Vorbildern orientierten, hypergenau konzipierten „Abreaktionsspiels“ in die Katharsis zu überführen. Bei Nitsch heißt dies Orgien Mysterien Theater: der Versuch eines Gesamtkunstwerkes, das alle Sinne ansprechen soll, mit Blut und Blumen, Musik und Wein; das Leben als Fest, inszeniert vom, laut Eigendefinition, „Kirchenmaler ohne Kirche. Und ohne Religion“.

Hermann Nitsch, Schüttbild mit Malhemd und pastoser Malerei, 1997, Öl auf Jute, 189 x 280 cm, Schätzwert € 90.000 – 160.000
Hermann Nitsch, Schüttbild mit Malhemd und pastoser Malerei, 1997, Öl auf Jute, 189 x 280 cm, Schätzwert € 90.000 – 160.000

In seinen späteren Schaffensjahren verwendete Nitsch rote Farbe statt Blut, ergänzte die Palette durch Schwarz, später durch weitere liturgische Farben wie Lila, Gelb und Grün. 2021 konnte der Künstler noch einen seiner Träume verwirklichen: Er schuf ein Schüttbilder-Bühnenbild in Bayreuth für die „Walküre“ von Richard Wagner, einem weiteren Gesamtkunstwerker im Geiste.

Information: Elke Königseder, Expertin für Österreichische sowie Osteuropäisce Moderne und Zeitgenössische Kunst

AUKTION

Zeitgenössische Kunst, 24. Mai 2023, 18 Uhr
Palais Dorotheum, Dorotheergasse 17, 1010 Wien

20c.paintings@dorotheum.at
Tel. +43-1-515 60-358, 386

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