Stammeskunst: Kunst und Kult. Ein Gastbeitrag von Jan Joris Visser

Tribal art, Stammeskunst

Kunst aufgeladen mit Zauberkraft, in allen Kulturen zu finden, seit jeher das Medium zur Darstellung und Übermittlung verschiedenster Inhalte.
Ob banal oder komplex, sakral oder profan: Kunst ist Träger und Vermittler.
Stammeskunst-Experte Jan Joris Visser sucht und findet Verbindungen zwischen den Objekten seiner Sparte und zeitgenössischer Kunst.

 Stammeskunst

Afrikanische Stammeskunst ist schal und kraftlos wie eine leere Leinwand, bis sie von Medizinmännern oder -frauen, Priestern oder Schamanen spirituell aufgeladen wird. Im Kongo etwa gibt man ein Gemisch aus Kräutern, Blut und Knochen in die Schädel- oder Rumpfhöhle des Kunstobjektes und schafft damit einen lebenden, funktionellen Gegenstand, mit dem kommuniziert werden kann. Wir Westler missdeuten das oft als „Voodoo-Zauber“, dabei werden nur in einer kleinen Region Afrikas, nämlich hauptsächlich in Benin, Voodoo-Figuren hergestellt. Dahinter steht der Glaube an mysteriöse Mächte, die die Welt regieren und das Schicksal ihrer Bewohner lenken. Voodoo-Figuren beschützen die Menschen und geben ihnen Kraft. Die meisten südlich der Sahara gefertigten Fetisch-Skulpturen sollen mit den Mächten, die uns umgeben, in Verbindung treten und sie beeinflussen. Sie sollen mit unseren Ahnen und Urahnen kommunizieren, Trost spenden und beschützen, nicht aber Schaden zufügen.

Nagel Fetisch, Dem. Rep. Kongo

Neues aus dem Westen

Viele westliche Künstler haben eine Affinität zu dieser Art von Metamorphose. Man weiß zum Beispiel um die Bedeutung von afrikanischer Kunst für die Kubisten von Montparnasse. Aber auch zeitgenössische Künstler zeigen Interesse an afrikanischer Stammeskunst und dem rituellen Schaffensprozess. So waren für Joseph Beuys Honig, Filz und Fett magische Materialien, mit denen er seine Objekte spirituell auflud. Als Künstler sei man Schamane, meinte er, und solle nicht Museumsobjekte nach formalästhetischen Kriterien schaffen, sondern das Bedürfnis des Betrachters nach geistiger und materieller Erneuerung stillen. Kunst richtet sich bei Beuys nicht mehr an ein bestimmtes Publikum, sondern wird zu einer „sozialen Skulptur“ aus Ideen, Symbolhandlungen und öffentlichen Diskussionen mit dem Ziel, die Gesellschaft zu verändern. „Der ego-zentrische Mensch muss sterben, um ein neues Leben im Einklang mit seiner materiellen und spirituellen Umgebung zu beginnen.“

Ein anderes bekanntes Beispiel ist die Baselitz-Sammlung. Sie umfasst Nagel- und Spiegel-Fetische aus der Region des Unteren Kongo, Eingeweide zur Weissagung, Fetzenpuppen und holzgeschnitzte Ahnenfiguren aus der Demokratischen Republik Kongo, kurz: so ziemlich alles, was den Künstler auf irgendeine Weise angesprochen hat. Sein Interesse gilt nicht nur den Figuren, die meist für uralte afrikanische Ritualhandlungen geformt oder geschnitzt wurden, sondern insbesondere den vielen an der Entstehung beteiligten Menschen: „Die Skulptur wird von einer Person geschnitzt, aber erst durch einen Medizinmann oder Priester in einen Fetisch verwandelt. Alle Beteiligten prägen die Figur, und das macht sie noch mysteriöser.“

Viele Künstler haben sich mit dieser Art der alchemistischen Aufladung auseinandergesetzt. Die Arte Povera eines Jannis Kounellis war mit Spuren von Feuer und Rauch versehen; Anselm Kiefer hat aus Blei und organischem Material Monumentalwerke geschaffen; Yves Klein tränkte Schwämme in magisches Blau; und James Lee Byars tünchte seine Arbeiten goldfarben. Bei Sigmar Polke schlägt sich die alchemistische Verwendung von Materialien in gemalten Projektionen der Stiche des Alchemisten Michael Maier aus dem 16. Jahrhundert nieder: Wie der Schamane der Figur des Bildhauers Spiritualität verleiht, so haucht Polke den Stichen neues Leben ein. Vor anderen zeitgenössischen Künstlern kommt einem aber der sprichwörtliche „Nagel-Fetischist“ Günther Uecker in den Sinn, der mit seinen Arbeiten das „Schweigen der Älteren“ überwinden will, wie er in einem Gespräch mit Hans Ulrich Obrist gemeint hat.

Günther Uecker, Weißer Wind

Das Dorotheum versteigert im Oktober eine kleine, aber erlesene Sammlung afrikanischer Stammeskunst, die von der eben beschriebenen Affinität zu magischer Kunst und Metamorphose beseelt ist. Gleichzeitig wird das Weltmuseum in Wien nach drei Jahren wiedereröffnet. Was liegt also näher, als beiden Ereignissen beizuwohnen?


Jan Joris Visser ist Dorotheum-Experte für Stammeskunst.

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Source
Tribal and Curiosity Sale
31. Oktober 2017




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