Franzobel: Früchtchen im Korb

Auch für diese Ausgabe des Dorotheum myART MAGAZINE ließ sich wieder ein österreichischer Schriftsteller von einem im Dorotheum angebotenen Gemälde inspirieren.  Ausgehend von Ambrosius Bosschaerts barockem Stillleben verwebt Franzobel in seiner Erzählung virtuos einen Ballon – mit einem Früchtekorb, den Nordpol mit den Niederlanden und junge Liebe mit alten Schwüren.

Saftige Trauben, man könnte meinen, sie wären mit Tokaier prall gefüllt. Ein Apfel und ein Pfirsich mit unanständig dicken Backen, dazu jungfräuliche Birnen in zartem Grün, blutrote Kirschen und mehlbetaute Pflaumen. Üppiges Leben quoll da aus dem Korb, und Anna, die das gerahmte Bild betrachtete, dachte an ihren Verlobten, der sich mit zwei anderen Männern auch in einem Korb befand. Eine Brieftaube hatte die Nachricht überbracht, dass Nils Strindberg, Knut Fraenkel und Salomon August Andrée am 11. Juli 1897, zwei Wochen vor Annas sechsundzwanzigstem Geburtstag, in Spitz­bergen abgehoben waren, um mit ihrem Wasserstoffballon zum Nordpol zu fahren. Fahren! – Darauf bestanden Ballon-Chauffeure. Dabei flogen sie. 

Ambrosius Bosschaert II. (1609 – 1641) Früchtekorb mit Muscheln, einer Eidechse und Insekten auf einer steinernen Tischplatte, Öl auf Holz, 37,5 x 49,5 cm Schätzwert € 200.000 – 300.000
Ambrosius Bosschaert II. (1609 – 1641)
Früchtekorb mit Muscheln, einer Eidechse und Insekten auf einer steinernen Tischplatte, Öl auf Holz, 37,5 x 49,5 cm
Schätzwert € 200.000 – 300.000

Nun war Herbst, und Anna hatte von Nils noch nichts gehört. Sie sah die Fliegen und Käfer auf dem gemalten Obst und fühlte leise Zweifel, ob sie ihren Verlobten jemals wiedersehen würde. Die Expedition war von langer Hand geplant gewesen, man hatte die Seide in Paris nähen lassen und gestärkte Krawatten, weiße Lederhandschuhe sowie Halstücher aus rosa Seide eingepackt, um für die Galadiners nach dem geglückten Abenteuer gerüstet zu sein. Dollar und Rubel waren im Gepäck, da man nicht wusste, ob man nach dem Bezwingen des Nordpols von Russen oder Amerikanern gefeiert werden würde. Drei verwegene Schweden, so viel stand fest, würden mit ihrem Ballon den Nordpol erobern, eine Boje abwerfen, auf der stand „Wir waren als Erste hier!“, und dann bejubelt werden. Sie rechneten fest damit, dass der Ausflug, den sie Ausfahrt nannten, in zehn, zwölf Tagen erledigt war.

Ein Jahr lang, hatte Nils aber gesagt, damals, als er noch Kraft in den Augen hatte, solle sie sich keine Sorgen machen. Vielleicht würde es länger dauern, bis sie zurück in die Zivilisation kamen, die Verkehrsanbindungen im Norden waren ausbaufähig. Anna hatte von Anfang an ein mulmiges Gefühl. Sie verstand nichts von Thermik und Luftströmungen, aber in ihren Träumen sah sie einen mit Raureif überzogenen Ballon, einen mit Eiszapfen bewachsenen Korb, gefrorene Taue, Sandsäcke und fürchtete, dass Nils und seine Gefährten im ewigen Eis festsaßen, nichts als Champagner und Konservendosen hatten. Vielleicht trafen sie auf Schneemenschen, Eisbären? Vielleicht waren sie da oben verrückt geworden? Es hieß, dass einen der Schneewahnsinn dazu trieb, sich auszuziehen und wirres Zeug zu plappern.

Nein, tröstete sie sich. Bestimmt waren Nils, Knut und Herr Andrée längst in Sibirien oder Neufundland und mussten bloß auf einen Walfänger warten, der sie in die Zivilisation brachte, damit sie ihren Triumph in die Welt kabeln konnten. Ein bisschen fürchtete sie sich davor. Nils könnte berühmt werden, hochgestellte Herrschaften würden ihn zu Empfängen zerren, ihm Medaillen umhängen, lange Reden auf ihn halten. Anna würde daneben sitzen und lächeln. Sie brauchte weder London, Paris noch Berlin, ihr gefiel es in Stockholm. 

Und die Eskimos? Als sie Nils gefragt hatte, ob es stimme, dass diese Eismenschen unmoralisch lebten, ihre Frauen tauschten, hatte er nordpoltrunken gelächelt und gesagt: „Mach dir keine Sorgen.“ 

Nun war er seit sechs Monaten weg, und sie, die sich keiner Zeit mehr zuordnen konnte, wartete. Immer öfter stand sie am Fenster, ersehnte den Briefträger und blickte auf das Bild, Werk eines schwedischen Kopisten. Das Original befand sich in Utrecht, Madrid, Florenz oder sonst wo. Anna mochte dieses Stillleben, das irgendwann während des Dreißigjährigen Krieges entstanden war. In ganz Europa schlugen sich damals Leute die Schädel ein, weil sie sich in theologischen Detailfragen nicht einig werden konnten, und in den Niederlanden malte jemand einen Korb mit Früchten. Schnecken, Muscheln und Nüsse lagen davor, und eine Eidechse hob drohend ihren Kopf. Ein Bild des prallen Lebens, Überflusses, doch die Insekten fraßen schon daran. War es ein Symbol ihrer jungen Liebe? Oder ein Bild der Zeit?

Beim Reisen will man Bilder bestätigt finden. Aber am Pol? Was hat der Mensch dort verloren? Nils waren die Trauben zu gläsern und die Kirschen zu rot, alles hatte ihn an die mit Wasserstoff gefüllte Seide erinnert. Wenn wir den Pol erreicht haben, werden wir Geld genug haben, um das Original zu kaufen.

Nils Strindberg! Du bist so verrückt wie dein Großonkel. Anna hatte gelacht.

Der Winter kam und ging, aber mit der Frühjahrssonne traf keine Nachricht ein. Sollte den drei Schweden etwas zugestoßen sein? Nein, Anna verbot sich, das zu denken. Auch Nils Eltern redeten nicht davon. Am Mittagstisch wurde über das Automobil und die Affäre Dreyfus debattiert, über die von einem Anarchisten erstochene österreichische Kaiserin, die bevorstehende Jahrhundertwende. Auch der berühmte Onkel von Nils Vater war oft Thema. Es hieß, der Schriftsteller habe Wahnvorstellungen, rede mit Geistern und sei nicht mehr ganz dicht.

Wie der Ballon? Auch wenn es niemand aussprach, wusste Anna es. Spätestens zur Jahrhundertwende war ihr klar: Nils würde nicht zurückkommen. Nie! Die Insekten hatten die Früchte angefressen, irgendwann waren sie verfault und der Ballon … abgestürzt? Sie konzentrierte sich auf ihr Klavierspiel, und als sich 1902 die Gelegenheit ergab, in die Schweiz zu gehen, ergriff sie sie. Alles, was Nils’ Verlobte von den Strindbergs erbat, war dieses Bild. Sechs Jahre später heiratete sie einen Verehrer und zog nach Amerika, wo zuerst Cook und dann Peary als Eroberer des Nordpols gefeiert wurden. Die drei Schweden kamen in den reißerisch gehaltenen Berichten nicht vor, in keinem Einzigen.

Als der Kriegseintritt der USA verkündet wurde, spielte Anna in Sarasota Bach, und als der Schwarze Freitag die Börsen erzittern ließ, gab sie ein Beethoven-Konzert in Baton Rouge. Ihr Mann war rührend, und auch wenn sie nie etwas sagte, spürte er, dass sich hinter der etwas zu großen Stupsnase und den leuch-tenden Augen etwas Umschattetes verbarg. Heimweh, dachte er und fürchtete, dass sie Schweden, wenn sie zurück wäre, nicht mehr verlassen würde.

1930 war es so weit. Sie verbrachten zwei Wochen auf Gotland, besichtigten Uppland und saßen gerade in einem Kaffeehaus am Stockholmer Hafen, als sie im „Aftonbladet“ die Nachricht sahen. Auf einer unbewohnten Insel bei Spitzbergen hatte man die Überreste der Ballonfahrer entdeckt – Zelte, Skelette, bestickte Taschentücher, Gaskocher. Anna schwieg. Zu den Begräbnisfeierlichkeiten wollte sie nicht gehen, schickte aber einen Kranz. 

Als sie die Briefe erhielt, die Nils ihr im Ballon, auf dem Packeis und der Insel geschrieben hatte, wollte sie sie erst nicht lesen. Nachdem sie es doch getan, von Erfrierungen, nassen Socken, Schmerzen und seiner Liebe zu ihr erfahren hatte, ging sie zum erstbesten Notar und gab eine Verfügung ab, worin es hieß, sie, Anna Charlier, wünsche, dass man, wenn es so weit sei, ihrem Leichnam das Herz entnehme und es neben Nils bestatte, und außerdem das Bild, was 1949 schlussendlich auch geschah. Bis es so weit war, saß sie noch oft vor den Früchten im Korb, dachte an Nils Strindberg, der zum Nordpol wollte … nicht, weil dort die saftigsten Trauben wuchsen, sondern einfach, weil er da war.

 

Zum Autor

Foto: Julia Haimburge
Foto: Julia Haimburger

Franzobel, geboren 1967 in Vöcklabruck als Franz Stefan Griebl, lebt als freier Autor in Wien. Sein Künstlername ist eine Kombination aus dem Vornamen seines Vaters, Franz, und dem Geburtsnamen seiner Mutter, Zobl. Bis 1991 war er bildender Künstler. Er erhielt unter anderem den Ingeborg-Bachmann-Preis (1995), den Arthur-Schnitzler-Preis (2002) und den Nicolas-Born-Preis (2017). 2021 erschien Franzobels Roman „Die Eroberung Amerikas“ und kam auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Seine Theaterstücke wurden in 23 Sprachen übersetzt und werden weltweit aufgeführt.

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